Als wir am Abend in Dover ankamen, war es längst dunkel geworden, und wir mußten zunächst die Straße nach
Folkestone suchen, wo wir übernachten sollten. Wir hielten einen kleinen PKW an, um den Fahrer nach dem Weg zu
fragen. Der sagte einige Sätze, die wir drinnen im Bus nicht verstanden, setzte sich wieder in seinen Wagen und
fuhr vor uns her die fünf Meilen lange Strecke nach Folkestone, bis er an der Tür unserer Unterkunft hielt.
Er war kein haupt- oder nebenberuflicher Lotse, kein Polizist und kein Angestellter eines Fremdenverkehrsbüros.
Er war irgendein Mann aus Dover, der, wie er uns erzählte, während des Krieges in deutscher Gefangenschaft war.
Freundlich verabschiedete er sich und fuhr zurück nach Dover.
Diese kleine Begebenheit, dieser freundliche Empfang, den uns England bereitete, war wie ein gutes Zeichen für
uns, und wir wurden auf unserer ganzen Fahrt nie enttäuscht.
Überall wohin wir kamen, wurden wir mit einer Herzlichkeit aufgenommen, wie wir sie auch hier kaum gefunden
hätten: Bei den Bergleuten von Newcastle wie bei Universitätsprofessor Ritchie, und mit den Studentinnen in Schloß
Alnwick hatten wir ebenso schnell Freundschaft geschlossen wie mit den Burschen und Mädchen von Whitley Bay und den
Familien in Shiremoore.
Nirgendwo spürten wir etwas von jener Kühle und steifen Korrektheit, die dem Engländer gewöhnlich nachgesagt
wird, und keine Spur eines Mißtrauens etwa, weil wir als deutsche Gruppe gekommen waren.
Über die politischen Entwicklungen der Vergangenheit ist man dort freilich wenig orientiert.
Mit wenigen Ausnahmen wußte niemand, daß in Böhmen und Mähren jemals Deutsche gelebt hatten, wie sie dort
hingekommen waren und auf welche Weise sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Was wir schon so oft erlebt hatten, sahen wir auch hier: daß es nicht böser Wille ist, sondern Unwissenheit, was
in der Welt so viel Schaden gestiftet hat und noch stiftet, weil es geschickten Agitatoren leicht ist, Haß und
Unfrieden zu saen, wo es am rechten Wissen fehlt.
Hier gab es viel für uns zu tun: 10 Veranstaltungen in Alnwick, Seghill, Hexham, Newcastle, Blyth, Backworth,
Kirkwelpington, Withley Bay und Shiremoore.
Wenn wir auch vor allem gekommen waren, um anderen einen Blick zu geben auf den Reichtum unserer Heimat an
Liedern und Tänzen und kennen zu lernen; was die Heimat der anderen an Reichtum bereithält, so spürten wir doch, daß
es damit nicht genug sein konnte. Die Gelegenheit zu solchen Gesprächen ergab sich von selbst.
Vielen unserer neuen Freunde war aufgefallen, daß wir aus Deutschland und Österreich gekommen waren, von unserer
Heimat aber als einer Landschaft im Norden Mährens in der heutigen Tschechoslowakei sprachen. Sie fragten uns danach,
und wir erzählten ihnen, wie alles gekommen war und welches Unglück nationale Unduldsamkeit an den verzahnten
Volksgrenzen im Osten Europas über die Völker gebracht hatte.
"Solche Probleme sind uns fremd", sagte ein Mädchen in Alnwick, "wir haben sie selber nicht und können sie darum nicht ganz verstehen." -- "Und wie ist es mit England und Schottland", entgegnete ich, "gab es nicht gerade hier Jahrhunderte lang blutige Kämpfe?" -- "Das ist lange her", antwortete sie.
Es ist lange her, gewesen, längst Vergangenheit geworden, ein Stück Geschichte, über das die Zeit hinweggegangen
ist zu neuen Ordnungen, die die alten Gegensätze außer Kraft gesetzt haben. Bei uns aber ist es noch nicht lange her,
und hüben und drüben denkt man oft noch immer in Gesetzen von gestern und vorgestern.
Aber vielleicht wird es auch auf dem Kontinent eines Tages möglich sein, das im einzelnen Verschiedene im Großen
als Eines zu verstehen.
Wir haben viele schöne Erinnerungen aus England heimgebracht, als schönstes aber das Wissen, daß dort wie hier
nichts mächtiger ist als der Wunsch nach einer die Welt umspannenden Freundschaft von Mensch zu Mensch und von Volk
zu Volk, die nur im Frieden gedeihen kann.
Aus dem kleinsten Gespräch, aus der Liebe, die wir überall fanden, spürten wir dieses Gemeinsame ebenso wie aus
den Reden, die bei offiziellen Empfängen gehalten wurden.
Wir denken zurück an den Bürgermeister von Blyth, an den Pfarrer von Kirkwhelpington, an Allan Brown, den Sqire
der Morrismen, an Tom und Maureen und wie sie alle heißen, die unsere Freunde wurden, und wir denken zurück an die
Worte, die Mr. Bennet zum Abschied sagte:
"Sie haben Ihre Heimat verlassen müssen, und es ist Ihnen heute verwehrt, dorthin zurückzukehren. Sie haben
eine zweite Heimat in Deutschland und Österreich gefunden, und wir wären glücklich, wenn Sie als dritte Heimat
Northumberland annehmen würden."
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