Von Landskron in den Kreis Fulda

Ich bin am 6.10.1935 in Landskron im Schönhengstgau (einer deutschen Sprachinsel auf der böhmisch-mährischen Grenze) geboren.

Mein Vater Emil Köhler war Studienrat in Landskron, Mährisch Schönberg und Troppau und fiel 1942.
Meine Mutter Lina Köhler war Lehrerin. Ich habe zwei jüngere Schwestern.

Wir konnten eine schöne Kindheit in unserem Einfamilienhaus und auf dem Firmengelände meiner Großmutter auf der anderen Straßenseite verleben, die einen Betrieb zu Erzeugung von Betonsteinen hatte mit einem großen Sandhaufen.
Der Lange Teich war im Sommer unser Wasserparadies. Die Winter waren schneereich und luden zum skifahren und rodeln ein.
In der Grundschule hatten wir nur einen tschechischen Mitschüler.


1945 -- Kriegsende, Vertreibung aus der Heimat

Das neue Jahr begann mit einer Überraschung.
Nach den Weihnachtsferien hatten wir uns im Januar nicht in unserem Schulgebäude sondern in einer Halle der Tabakfabrik einzufinden, weil unsere Schule als Lazarett benötigt wurde. Die Halle war riesig groß und eiskalt, in der wir -- etwa 30 Schüler des 4. Schuljahres -- und unsere Lehrerin, Frau Josefine Schmidt, froren.
Einen neuen Atlas bekamen wir, der mich sehr interessierte und die Nachricht, wir sollen wieder nach Hause gehen. Es wird nach einer neuen Unterkunft gesucht.
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in diesem Jahr in einem anderen Raum unterrichtet worden sind.

Die Stadt war voll Flüchtlingen aus Schlesien, die mit ihren Wagen auch in unserem Hof gelandet waren.
Im März strömten dann die Wehrmachtssoldaten mit ihren Fahrzeugen in unsere Stadt. Ein Werkzeugwagen wurde vor unserem Haus abgestellt. Der Inhalt war ein Kindertraum, denn er war mit Kisten voll Werkzeug gefüllt.
Plötzlich waren die Flüchtlinge und die Soldaten verschwunden. Das Militärgerät blieb stehen.
Aber das Kanonengrollen kam näher.

An einem schönen sonnigen Frühlingssamstag sahen wir den ersten Russe mit einem Panjewagen anbrausen. Er brach die Gastwirtschaft in unserer Nachbarschaft auf und stürmte, die Arme voll Schnapsflaschen, davon.

Nun überschwemmten nach dem 9.Mai 1945 die mongolischen Sowjetsoldaten unsere Heimat Landskron im Schönhengstgau/Sudetenland, nachdem die Truppen von General Schörner Mähren verlassen hatten.
Wilde Sauforgien, Plünderungen, Einbrüche in die Häuser, Jagd auf Frauen Tag und Nacht erschreckten uns Kinder ständig. Stets hatten wir Angst um unsere Mutter.
Einige Male rannten wir zu einem russischen Offizier, um die Mutter vor Vergewaltigung zu retten.

Nachdem das Übernachten auf verbarrikadierten Dachböden zu unsicher wurde, weil auch da die Russenhorden eindrangen, flüchtete unsere Mutter mit ihren drei Kindern zum Übernachten auf das Feld. Dort schliefen wir mit anderen Deutschen, die sich auch in Sicherheit bringen mußten, in einer Kuhle. Ständig sahen wir Leuchtmunition detonieren.
Zum Glück war der Mai in diesem Jahr trocken und warm, sodaß wir ohne weiteren Schutz draußen schlafen konnten.
In unserem Haus weiter zu wohnen, war unmöglich, zumal die Russen viele unserer Sachen gestohlen und in ein vor unserem Haus stehendes Lastauto gepackt hatten.

Wir quartierten uns in dem Haus unserer Großmutter ein, die Österreicherin war und hoffte, einen anderen Status zu haben als die Sudetendeutschen. Aber auch ihr Haus wurde von einer ganzen Kompanie von Sowjetsoldaten und Soldatinnen belagert, die dort wild hausten, Rinder schlachteten, Häute und Innereien einfach liegen ließen, die einen argen Gestank verbreiteten.

Durch die Hetzreden des aus dem Exil zurückgekehrten Beneš war es meiner Mutter klar, was nun durch die Tschechen auf uns zukommen wird, nämlich die Verfolgung und die Vertreibung aus unserer Heimat.
Die Lage war hoffnungslos. Der Vater war im Krieg 1942 gefallen, die Mutter allein mit drei Kindern im Alter von 9, 7 und 5 Jahren.

Am 17. Mai 1945 begannen die schrecklichen Morde der Tschechen an der männlichen deutschen Bevölkerung von Landskron, bei denen 23 Männer bestialisch erschlagen worden sind.
(Dokumentiert in: Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen, 1951 München, Seite 55, Bericht Nr. 18)

Der einzige Ausweg für uns: Selbstmord. Die Versuche misslangen.
So leben wir noch heute und haben die schlimme Zeit im Internierungslager (einem ehemaligen RAD-Lager in Landskron) von Juni bis Oktober 1945 überstanden. Im Oktober wurden wir entlassen und mussten uns eine Wohnung für den Winter suchen.
Unser Haus war ausgeraubt und von Tschechen besetzt. Die Großmutter durfte in einem Hinterhaus auf ihrem Grundstück bleiben. Zu ihr zogen wir bis zu unserer Vertreibung im Februar 1946.

Pro Person durften wir 30 kg mitnehmen und wußten nicht was.
Die Wertgegenstände waren gestohlen. Es wurde auch verboten, irgendetwas von Wert mitzunehmen. Alle Sparbücher, jeder Schmuck usw. wurden bei den vielen Kontrollen weggenommen.
Da wir durch die Ausraubung durch die Russen und die Tschechen nicht mehr allzu viel besaßen, blieb im Flüchtlingsgepäck Platz für ein paar Spielsachen. So nahm ich die von meiner Tante selbstgebastelten Kasperfiguren mit und die Schwestern ihre Puppen.
Pro Person sollen die Tschechen 500,- RM Überbrückungsgeld ausgegeben haben, woran ich mich aber nicht erinnere.

Nach einigen Tagen Fahrt in Viehwaggons Richtung Westen kamen wir in Fulda am 23. 02. 1946 mit etwa 500 anderen Landskronern an.


1946 in Hainzell, Kreis Fulda

Die Stadt Fulda hat als Notquartier eine alte Textilfabrik in der Heinrichstraße als erste Notunterkunft so hergerichtet, dass wir Kinder das Gefühl hatten, jetzt hat die Angst wohl ein Ende.
Alles war sauber, Rote-Kreuz-Schwestern umsorgten uns, wir bekamen zu essen, hatten ordentliche Waschgelegenheiten und konnten das Tschechischsprechen vergessen, zu dem wir seit Oktober 1945 gezwungen waren, um nicht ständig von tschechischen Jungen verprügelt zu werden. Bis dahin konnten wir kein Tschechisch.

Nach einigen Tagen wurden wir in Busse verladen und an die Kreisgrenze in den Vogelsberg nach Hainzell verfrachtet. Es waren die Faschingstage.
Der Saal der Wirtschaft, in dem wir landeten, war zum Tanz geschmückt. Für uns Kinder unbegreiflich, wie normal hier das Leben nach dem Krieg weitergeht.

Nun begann die Einweisung bei den Bauern. Wenn man schon die Flüchtlinge aufnehmen muß, will man möglichst arbeitsfähige junge Leute. Die waren aber spärlich.
Schließlich bekam meine Mutter mit den drei Kindern und der Großmutter auch ein Quartier, ein Zimmer (etwa 8m² groß) mit einem Ehebett, und zwei amerikanischen Faltbetten. Das Zimmer hatte weder elektrisches Licht noch einen Ofen.
Später, als der polnische Knecht abgehauen war, bekamen wir noch ein Zimmerchen dazu.

Die Zukunft war auf dem kleinen Dorf völlig ungewiß. Der einzige Lichtblick für die Mutter war, so schien es mir, dass im Dorf auch noch einige Freunde aus der Heimat wohnten, mit denen zusammen man Überlegungen über die Zukunft anstellen konnte.

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Ankunft in einer fremden Welt

Das Leben auf dem Dorf

An dem grauen, winterlichen Tag (23. 02. 1946) an dem wir in Fulda ankamen, wurde uns Kindern auch das Elend in Deutschland deutlich.
Kein Haus in der Bahnhofstraße hatte Fensterscheiben, alle Schaufenster waren mit Brettern vernagelt. In keinem Geschäft gab es etwas zu kaufen. Viele Häuser waren zerbombt. Die Straßen waren unbeleuchtet und gespenstisch.

Der Empfang im Dorf, 16 km entfernt von der Stadt, war sehr skeptisch.
„Wo kämmt ihr da har, ihr Zichiner ?“ (Wo kommt ihr Zigeuner denn her?) fragte der Opa der Familie, in die wir einquartiert wurden.
Wir waren die Flüchtlinge, die nichts hatten, die keinen sozialen Status aufweisen konnten und in das dörflich katholische Bild nicht passten.

Trotzdem waren wir dankbar, ein Dach über dem Kopf zu haben, und dass die Ängste vor Russen und Tschechen für uns Kinder beendet waren.

Die Lebensbedingungen auf dem Dorf belasteten uns Kinder nicht.
Ich ging als 10-jähriger mit der Bäuerin aufs Feld, hackte Rüben, erntete Getreide und Kartoffeln und hütete die Kühe.
In die zweiklassige Dorfschule wurde man eingeschult, weil es keine Möglichkeit gab, in die Stadt in die Höcher Schol -- in das Gymnasium -- zu fahren.

Lebensmittel, Hausrat und Kleider gab es auf Bezugscheine, die man beim Bürgermeister erbetteln musste.
Ansonsten ging man stets in den Wald, um Heidelbeeren und Pilze und auf den abgeernteten Feldern Getreideähren zu sammeln, um sie auszudreschen und die Körner zum Müller zu bringen, um etwas weißes Mehl für einen Kuchen zu bekommen. Ansonsten wurden Kuchen aus Kartoffelteig gebacken.
Der Bäcker meinte, als die Mutter ihm das Blech zum Backen brachte: „Was fresst Ihr da für Zeich?“
Auch die Bucheckernernte war wichtig, denn die Bucheckern gaben Öl.
Zum Heizen für den kleinen Herdofen wurde bei jedem Gang in den Wald Leseholz mitgebracht.

Auf einem kleinen Ackerstreifen konnten wir etwas Gemüse anbauen.


Umzug an den Rand der Stadt Fulda

Die erste richtige Wohnung bezogen wir 1950 in Kohlhaus in einer Flüchtlingssiedlung.
Die Mansardenwohnung hatte eine kleine Küche, zwei Zimmer, Toilette aber kein Bad. Geheizt wurde mit Öfen, die Sägemehl als Brennmaterial bekamen. Es war eine Mietwohnung.

1958 baute meine Mutter mit Hilfe des Lastenausgleichs (12.000,-DM) ein kleines Haus für 32.000,- DM Gesamtkosten. Das war das erste Zuhause, zumal es nun auch genügend Platz bot und ein Bad sowie einen Garten besaß. Das war ein wichtiger Schritt zurück ins bürgerliche Leben.

Nun war auch der Weg in die Höhere Schule nicht mehr so abenteuerlich. Ich konnte die Schule zu Fuß erreichen.

Die Benachteiligung als Flüchtlingskind war gegenüber den einheimischen Mitschülern ganz eindeutig.
Erstens kannten die Lehrer auf der Oberschule viele Familien der einheimischen Schüler und behandelten sie anders als uns Flüchtlingskinder.
Unsere Kleidung unterschied sich gravierend von der der Einheimischen. Wir hatten Kleidung aus drei mal umgenähten Militärmänteln, Schuhe mit Holzsohlen und schrecklich kratzige Schafwollstrümpfe. Die Einheimischen hatten Zugang zu den im Geheimen gefüllten Warenlagern einheimischer Freunde.

Von Rückkehr sprach in meiner Umgebung niemand. Die politische Situation zeigte die Unmöglich deutlich.

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Integration

Wir schufen uns eine neue Heimat

Sehr früh (1954) bin ich in die DJO-Deutsche Jugend des Ostens, heute DJO-Deutsche Jugend in Europa, eingetreten, weil wir Jugendlichen aus dem Osten oft den Eintritt in einheimische Vereine verweigert bekamen. ( Flüchtlinge dürfen nicht Fußball mitspielen )
Die wenigen Vereine, die es nach dem Krieg gab, waren überlaufen, sodaß in erster Linie die einheimischen Kinder Aufnahme fanden.
Die Amerikaner boten Freizeitbeschäftigungen in GYA -- German Youth Activities -- an, die aus Filmvorführungen, Tischtennis, Schallplattenmusik und ähnlichen Unverbindlichkeiten bestanden.

1954 nahm ich zum ersten Male an einem Lehrgang am Heiligenhof teil.
1956 fuhr ich mit Mitglieder der DJO Fulda und Kassel ins Winterlager auf das Purtscheller-Haus bei Berchtesgaden.
1960 übernahm ich die Führung der Landesgruppe Hessen der Sudetendeutschen Jugend.

1956 war ich Gründungsmitglied der Schönhengster Spielschar in Karlsruhe.
Im Rahmen der Spielschar wurden heimatliche Kultur gepflegt, Volkstänze und Liedsätze gelernt und Freundschaften geschlossen. Diese Gruppe reiste viel in Europa herum und vermittelte den Menschen im Ausland durch Tanz, Singen und Musizieren die Kultur der Sudetendeutschen.

Ich widme mich bis heute auf verschiedene Art und Weise dem Problem Vertreibung:
Aktive Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Sudetendeutsche Akademiker, in der Bildungsarbeit des Heiligenhofs (der kulturellen Bildungsstätte der Sudetendeutschen in Bad Kissingen), als Mitglied in der Walther-Hensel-Gesellschaft, die die Forschungsarbeit Walther Hensels weiterbetreibt und selbst kulturell tätig ist durch Sommer- und Wintersingwochen sowie durch Kulturfahrten in die Tschechische Republik.

Die frühere Heimat im Schönhengstgau habe ich häufig besucht und auch Kontakt zu den heutigen Bewohnern unserer Häuser aufgenommen. Besuche erfolgten bereits in der Sozialistischen Zeit vor 1990 und danach.

Ich pflege die Kulturgüter meiner früheren Heimat dadurch, dass ich Mitglied der Walther Hensel-Gesellschaft bin und mit ihr zu kulturellen Veranstaltungen in den Schönhengstgau fahre.

Ich war auch als 1. Vorsitzender des Freundeskreises Fulda-Leitmeritz/Litomerice e.V., tätig, der gegründet wurde, als die Stadt Fulda die Patenschaft über die Leitmeritzer Vertriebenen in eine Partnerschaft mit der Stadt Leitmeritz/Litomerice erweitert hat.
In diesem Rahmen wird eine enge Verbindung zur tschechischen Bevölkerung gepflegt.

In dieser Tätigkeit konnte ich als Sudetendeutscher eine Brücke bauen zwischen einheimischen Fuldaern und Tschechen.
Die junge Generation soll sich in Kenntnis ihrer Geschichte um ein friedliches Zusammenleben bemühen.


Jost Köhler, 19. 01. 2013



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