Das Gespräch am Kamin

Den Heiligenhofkamin mitten in Euch hineinzusetzen, das ist der Sinn unseres Gespräches am Kamin.
Wir haben ihn gerettet, er hat den Umbau überlebt.
Und so, wie bei den Gesprächen am Kamin zwischendurch mal eine Weile geschwiegen wird -- dann, wenn einer etwas besonders Wesentliches gesagt hat und die anderen darüber nachdenken wollen -- so soll auch hier zwischendurch ein bißchen geschwiegen und gedacht werden.
Und wer dann etwas dazuzusagen hat, der soll sich hinsetzen und seinen Beitrag zu unserem Gespräch festhalten und an den Heiligenhof schicken.

Nach dieser kleinen Vorrede, während welcher das wie immer ziemlich feuchte Holz im Kamin entzündet wurde, kann mit den ersten Flammen, die knisternd aufsteigen, das Gespräch beginnen.

Saß da neulich einer mit uns beisammen -- ein alter Freund und Kamerad von daheim -- er sah sich eine ganze Weile um, lächelte ein bißchen und sagte dann:
"Sagt mal, warum tut ihr das alles überhaupt noch? Warum predigt ihr Eueren Mädeln und Jungen heute noch vom Wert des Lebens a la Jugendbewegung? Man glaubt es Euch letzten Endes doch nicht.
Oder glaubt Ihr, daß einer aus Euerem Haufen später mal noch zu Fuß gehen wird, wenn er sich ein Auto oder auch nur ein Moped leisten kann?
Und daß er zelten wird, wenn er auf den Campingplätzen allen Komfort unserer Zeit findet?
Oder daß er auf offenem Feuer kocht, wenn er den Propangasherd im Küchenraum des Campingplatzes für ein paar Pfennige benützen darf?
Glaubt ihr das wirklich?
Macht ihr nicht viel mehr den Versuch, etwas am Leben zu erhalten, was eigentlich schon längst gestorben ist?"

"Hm", meinten wir und hatten ein paar Minuten lang zu tun, um mit diesen Brocken fertig zu werden. Denn wenn man die ganze Sache mit seinen Augen betrachtet, hatte er zweifellos recht.
Und um ehrlich zu sein, manchem von uns waren solche oder doch ähnliche Fragen auch schon begegnet, ja vielleicht sogar aufgestiegen in einer nachdenklichen Stunde.
Also sollte man eventuell doch einmal darüber sprechen.

"Zunächst einmal", sagte einer, "mußt du dir überlegen, wie es zu dem ganzen Leben a la Jugendbewegung wohl überhaupt kommen konnte."

"Na ja, das ist doch sehr einfach. Es gab da einmal ein paar hoffnungslose Romantiker, denen das Leben ihrer Zeit nicht mehr gefiel. Die fingen an zu wandern, nannten sich Wandervögel, suchten Anhänger und die sogenannte Jugendbewegung war geboren."

"Oho! Ganz so einfach war das sicher nicht.
Zugegeben, die Romantik mag einen kleinen Anteil gehabt haben. Ausschlaggebend aber war dieser Teil sicher nicht!",
meinte ein Zweiter. "Viel wesentlicher dürfte gewesen sein, daß den Jungen von damals das Leben ihrer Zeit, besser: ihr Leben in jener Zeit nicht gefallen hat.
Sie wollten jung sein dürfen. Man verlangte aber, daß sie kleine Erwachsene sein sollten.
Und dagegen revoltierten sie.
Und alle Phasen der ersten Jugendbewegung zeigen die Merkmale einer echten Revolution."

"Ach --", meinte der Zweifler.

"Und ob!
Oder war es nicht revolutionär in einer Zeit, da bürgerlich-sicheres, sattes Leben das Ziel ganzer Generationen war, das Wagnis der Fahrt auf sich zu nehmen?
War es nicht revolutionär, sich in einer Zeit, in der alles Natürliche den Beigeschmack des ,Ordinären' trug, zur Natur und zu einem natürlichen Leben zu bekennen?
Das war eine Revolution, eine Revolution der jungen, lebendigen Kräfte eines Volkes, das in höchster Gefahr war, den Reichtum zum Gott, die ,sichere Position' zu seinem Altar machen."

"Ob das so schlimm war?", zweifelte unser Gast.

"Verlaß dich drauf, daß es so war", sagten wir. "Lies, was wir aus zeitgenössischer Literatur heute noch haben. -- Viel ist es nicht! -- Und sieh dir an, was uns aus Bildern aus jener Zeit geblieben ist."

"Ja!", fiel einer ein. "Und hör dir die Lieder der Jungen jener Zeit an!
Gültig bis heute -- und gültig irgendwo noch ins Morgen hinein!".

"Nein, nein, man sollte diese erste Jugendbewegung nicht mit Romantik abtun, man darf das nicht!
Diese erste Jugendbewegung wehrte sich mit aller Kraft gegen Formen, die aus der Vergangenheit überliefert waren und die sie nicht übernehmen wollte."

"Na schön -- ihr habt mich nicht ganz überzeugt, aber ich will es euch abnehmen!", meinte unser Gast.
Aber wie kam es denn dann -- ich meine, wenn die Idee dieser ersten Jugendbewegung so stark war -- daß sie vor der HJ die Fahnen strich?"

-- Nun waren wir warm geworden und es ging weiter. --

"Dazu wäre zunächst mal zu sagen, daß sie erstens die Fahnen streichen mußten, und daß zweitens gar nicht alle Bünde die Fahnen gestrichen haben."
"Aber die HJ hat doch den Wandervogel letzten Endes überwunden!"

"Hat sie das? Hat sie das wirklich?", fragten wir, und unser Freund wurde nachdenklich.

"Na ja, genau betrachtet hatte die HJ eine ganze Menge vom alten Wandervogel", gab er nach einer Weile zu.

"Genauer gesagt", meinte einer von uns, "sie hat alles übernommen, was gut und wesentlich war: Fahrt, Lager, körperliche Ertüchtigung, Erziehung zu allem Echten, Wahren und Großen."

"Natürlich, zu guten PG's und zu fanatischen Kämpfern", spottete der Andere. "Alles echt und wahr und groß!"

"Moment mal, das kam erst sehr viel später und von diesem Zeitpunkt an war mit der HJ auch nicht mehr allzuviel los. Auf alle Fälle -- man kann zu ihr stehen wie man will -- ein großes Werk hat sie getan!"

"Und das wäre?"

"Sie hat Gemeinschaft geschaffen!"

"Ach nee", meinte unser Kamerad. "Gemeinschaft? Mit Sternen und Schnüren und Bannführern als kleinen Herrgöttern! -- Gemeinschaft nennt Ihr das?"

"Abgesehen, daß auch das eine Erscheinung der letzten fünf bis acht Jahre war, hat die HJ immerhin den Sohn des Generaldirektors neben den Sohn seines Hausmeisters ins Glied gestellt und ihnen das gleiche Hemd angezogen.
Das mag dir als etwas sehr Äußerliches vorkommen, aber es war immerhin das erste Mal, daß so etwas geschah, seit undenklich langer Zeit.
Und daß aus dem äußeren Zwang mit der Zeit Gewöhnung und schließlich doch Gemeinschaft wurde, das kannst du uns nicht abstreiten. Denn auch Äußerlichkeiten können -- richtig angewendet -- sehr gute, ja hervorragende Erziehungsmittel sein.
Daß diese werdende Gemeinschaft in einer ganz bestimmten Richtung und ausschließlich in dieser erzogen wurde, lehnen wir heute ebenso ab, wie du das tust.
Das nimmt aber der HJ -- vor allem der HJ der ersten Jahre, ungefähr bis 1937/38 -- nichts von ihrem eigentlichen Verdienst.
Sie hat die Jugendbewegung nicht eigentlich abgelöst, sie hat aber den vorwiegend auf die sogenannten bürgerlichen Kreise beschränkten Bünden die breite Basis echter Gemeinschaft gebracht."

"Sie hat aber auch schwere Fehler gemacht!"

"Geben wir gerne zu, aber jenseits dieser Fehler steht das Verdienst und das ist eindeutig und bis heute übriggeblieben.
Ohne HJ stünden sich heute vielleicht immer noch die klassenkämpferischen Jugendbünde gegenüber -- Reste sind sowieso bis heute da -- von diesen abgesehen stehen aber doch heute in allen Bünden eben Jungen und Mädel neben Jungen und Mädeln und nicht nur die Direktorstöchter neben anderen höheren Gänsen."

Unser Gast war nun doch ein bißchen sehr nachdenklich geworden.
"Na schön," sagte er schließlich, "auch das kauf ich euch ab, damit aber habt ihr mir die Antwort auf meine erste Frage noch immer nicht gegeben."

"Immerhin aber haben wir ein paar wichtige Voraussetzungen geklärt", meinten wir. "Wir finden aber auch auf deine Frage eine Antwort."

"Da bin ich aber gespannt", meinte er.

"Kannst du gerne sein", sagte einer, der bisher noch nicht allzuviel geredet hatte.
"Wenn du dir unsere Zeit ansiehst, dann zeigt sie einerseits die Merkmale der Zeit um die Jahrhundertwende, also das Streben nach Reichtum, nach Bequemlichkeit, nach allen Segnungen der Zivilisation, kurz nach dem, was man höheren Lebensstandard zu nennen pflegt.
Man macht dieses Schlagwort oft schon zu einem Götzen, um den herum man gern tanzen möchte, wie weiland die Juden um das goldene Kalb.
Du findest daneben -- und das ist eine ganz logische Folge des vorher Gesagten -- kaum noch Gemeinschaften, sondern höchstens Interessenverbände oder Gewerkschaften.
Weiterhin baut sich an Stelle der Klassen seligen Angedenkens ein neues Klassenbewußtsein auf -- die Hierarchie des Verbrauchers, in welcher zum Beispiel der Autobesitzer einer höheren Kaste anzugehören meint, als der, der noch mit dem Fahrrad fährt, ganz abgesehen von dem, der heute noch zu Fuß gehen muß."

"Stimmt!", fiel ein anderer ein. "Und das wird von Jahr zu Jahr toller und prägt sich von Jahr zu Jahr deutlicher ab.
1945 hatten wir alle fast nichts mehr.
Heute aber gibt es schon wieder Riesenunterschiede, je nachdem ob man am Wirtschaftswunder mehr oder weniger hoch beteiligt ist."

"Und die Jugend unserer Zeit -- dieser Zeit -- wächst da hinein", lächelte unser Gast, und uns gefiel dieses Lächeln nicht besonders.

"Eben -- und hier liegt vielleicht doch eine Aufgabe", setzten wir seiner durch sein Lächeln überdeutlich ausgedrückten Meinung entgegen.
"Stell dir doch mal die Folgerungen vor.
Wenn diese Jugend nicht lernt, sich gegen all das zur Wehr zu setzen, wenn sie nicht lernt, von all den vielen, technischen Hilfsmitteln unabhängig zu sein, werden wir auch in Zukunft die Technik nicht beherrschen lernen, sondern weiterhin von ihr beherrscht werden."

"Schlagwort", parierte unser Freund. "Was heißt, von ihr beherrscht werden?"

"Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß wir uns nicht mehr zu helfen wissen, wenn die Technik einmal versagt. Und sie kann jeden Tag einmal versagen.
Noch beherrschen wir die Natur nicht.
Noch gibt es Katastrophen -- jeden Tag eine neue -- noch gibt es tausend Möglichkeiten, daß wir auf alle Hilfsmittel der Technik verzichten müssen."

"Nimm doch mal als Beispiel deinen geliebten Campingplatz!", fiel einer ein. "Da kann es passieren, daß eben mal kein Gas in der Flasche ist. -- Was ist dann?
Dann geht man ins Gasthaus essen, na ja, aber ist das denn der einzige Ausweg?
In seinem netten Büchlein über 'Camping' schreibt Alexander Spoerl:
'Am besten dran sind immer noch die alten Wandervögel, die, mit allen Lagertricks vertraut, sich auch dann noch zu helfen wissen, wenn die komfortable Technik versagt.'"

"In diesem Satz steht viel mehr, als man auf Anhieb meint.
Aus diesem Satz kannst du unsere ganze Aufgabenstellung heute ableiten",
meinte ein vierter.

"Hm", überlegte unser Gast. "Also Kampf der Technik“

"Aber nein!", protestierten wir. "Wieso denn Kampf?
Aber wir wollen zuerst lernen, ohne die Technik auszukommen. Und unsere Jungen und Mädel sollen es zu einer Zeit lernen, zu der sie es noch mit Begeisterung lernen.
Mit dieser Fähigkeit, mit dem Können ohne Technik, sollen sie sich dann aller technischen Hilfsmittel, die sie sich wirklich leisten können, bedienen.
Sie sollen sich ihrer bedienen, wie wir uns heute noch der überlieferten Werkzeuge bedienen.
Vieles aber, was wir heute um uns haben, b e d i e n e n wir.
Der Arbeiter seine Maschine, der Fahrer sein Auto, der feierabendlich Gesinnte seinen Radioapparat.
Er bedient ihn, wir aber wollen lernen uns all dieser Dinge zu bedienen, das heißt, daß wir nicht für die Technik leben, sondern um uns durch die Technik das Leben leichter zu machen."

"Sagt mal, wollt ihr das wirklich erreichen?", fragte unser Gast nach einer langen Pause. "Das ist doch viel mehr, als ihr überhaupt leisten könnt!"

"Wir wollen es zumindest versuchen. Wir sehen hier eine echte Aufgabe.
Unsere Jugendbewegung -- jeder Jugendbund unserer Zeit -- sollte sich vornehmen, sich gegen die Formen zu wenden, die aus der Zukunft auf uns zukommen und Wege suchen, die zur Überwindung dieser Formen führen."

"Und sie sollten ihren Jungen und Mädeln wieder das Bewußtsein echter Gemeinschaft vermitteln."

"Ja, das sollten sie. Viele haben es nicht erkannt. Es wäre Zeit, hohe Zeit, für alle, einmal darüber nachzudenken."

Wir schwiegen eine Weile und sahen den Flammen zu, die kleiner und kleiner wurden.
Schließlich glühte nur noch ein dicker Ast. -- Zeit, das Gespräch abzuschließen.

"So betrachtet, habt ihr vielleicht doch eine echte Aufgabe", meinte unser Gast.

Und was meint Ihr alle draußen?



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