Balkon - II. Reihe - Mitte

Im Winter, bei diesem miesen Wetter, kommt man oft auf dumme Gedanken, dachten wir, als Heinz in der letzten Gruppenstunde feierlich verkündete: "Männer -- nächste Woche gehen wir ins Theater!"

"Ins Kasperltheater? -- Fällt dir kein blöderer Witz ein?" So fragten wir.

"Quatscht nicht so geistvoll," erwiderte Heinz, "natürlich gehen wir in ein richtiges Bühnenstück, und zwar in eine Operette!"
Das auch noch! Nun waren wir platt.

"Ihr könnt bei der Gelegenheit beweisen, ob ihr euch in einem feinen Anzug genau so sicher benehmen könnt, wie im Räuberzivil bei einem Geländespiel, selbst wenn man nicht sofort erkennt, von welchem Verein ihr seid."
Das war eine Herausforderung.
Wir können! Das wollten wir dem Heinz beweisen.

Zu Hause war dann schon fünf Tage vor dem Ereignis die ganze Familie in Aufruhr.
Mütter bügelten dunkle Kommunionsanzüge auf, Väter pumpten seidene Schlipse, Hemdenbestände wurden auf Tauglichkeit geprüft . . .

Dann war der große Abend da. Heinz, misstrauisch wie immer, hatte uns schon lange vor der Zeit in einer dunklen Ecke des Opernhauses versammelt.
Wissen möchte ich nur, warum der gemeine Kerl so gegrinst hat, als er uns der Reihe nach musterte.
Nun ja, größer waren die dunklen Anzüge seit ihrer ersten Benutzung auch nicht geworden. Freds und Peters Schlipse standen auf Halbmast. Daran waren aber die altmodischen Knoten schuld, die beider Väter gebunden hatten. Ich sage ja auch immer: die Knotenlehre!

Da -- es bimmelt schon zum ersten Mal.

Wie die Wilde Jagd stürmen wir acht Mann die Garderobe. Jetzt ist sogar Heinz ein bisschen aufgeregt. Nur Kurt und Dieter haben die Ruhe weg. Sie streiten, ohne sich um die anderen zu kümmern, ob man ein Opernglas brauche oder nicht.

Balkon - Mitte - II. Reihe steht auf unseren Karten. Glockenzeichen Nummer zwo.
Jetzt heißt es laufen. Natürlich rennen wir erst in die falsche Richtung. Ohne Bauplan soll sich einer bei den vielen Gängen, Aufgängen und Türen auskennen!

Im letzten Moment kommen wir oben an.
Der brummende Platzanweiser will uns nicht mehr hineinlassen.
Heinz bietet seine ganze Überredungskunst auf. Wir wischen hinein. Das Licht verlöscht, Musik setzt ein, der Vorhang geht auf.

Wie das Fähnlein der sieben Aufrechten stehen wir. Einer hält den anderen am Rockzipfel, damit wir uns in der Finsternis nicht verlieren.

Wir im Theater

Fritz tappt sich als erster zu unserer Reihe durch, und da unsere Plätze in der Mitte liegen, bittet er um Durchlass. Etwas unwillig über die Störung erheben sich beleibte Damen in feinen Abendkleidern, Herren mit Smoking und Fliege.

Schwitzend kämpfen wir uns nach vorn.
Hier liegt ein Bein im Wege, dort rennen wir mit den Ellenbogen an. Dabei gehen wir mit dem Gesicht zur Bühne, damit uns nichts entgehen kann.
Aber -- was ist das? Schon längst sind wir in der Mitte der Reihe -- wo sind unsere acht Plätze? Alles besetzt! Welche Schufte haben sich da auf unsere Plätze gesetzt?

Ratlos bleibt Fritz stehen. Unten tut sich schon etwas auf der Bühne, einer singt.

Plötzlich mischt sich in die Musik und den Gesang ein Schreckensschrei -- Heinz hat acht leere Plätze entdeckt -- aber eine Reihe vor uns.

Kehrt! Die Reihe wieder zurück!
Um uns tobt ein wahrer Hexenkessel. Ein echter Spießrutenlauf muß eine Kleinigkeit gegen das sein, was wir hier im Opernhaus erleben. (Mutprobe!)

Als wir uns aufatmend in die weichen Polstersessel fallen lassen und Heinz den Angstschweiß von der Stirne wischt, lässt Wolf -- Höhepunkt unseres Auftretens -- sein Programmheft von der Brüstung der Galerie ins Parkett hinab segeln.
Mit eingezogenen Köpfen wagen wir nicht, den Flug weiter zu verfolgen. Die Dunkelheit ist uns gnädig.

Jetzt aber geben wir uns ganz dem Kunstgenuss hin.

Als die Pause beginnt, bestimmt Heinz: "Leute, wir bleiben sitzen!"

Uns ist das gar nicht recht.
Aber nach all den Blicken, die uns da und dort treffen, vergeht uns die Lust zum Promenieren.

Der Rest der Operette verläuft dann ohne weitere Zwischenfälle.
Aber ich glaube, Heinz hat schwer aufgeatmet, als wir wieder aus dem Opernhaus heraus waren.
 

Klaus, Eichenried/München



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