Blick in die Heimat

Wir standen an der Grenze und schauten hinüber in das Land, das unsere Ahnen sich und uns zur Heimat schufen. Was wir aus Büchern wußten und aus Berichten derer, die selber schon dort gestanden waren, nun sahen wir es mit eigenen Augen: die Türme, die argwöhnisch das geraubte Land bewachen, die Drahtzäune, die es umgeben, grüne Wiesen hier und braune, verwilderte drüben.
Kinder waren uns auf dem Weg begegnet, Holzfäller und Mägde. Drüben sahen wir keine Kinder und keine Menschen, die ihrem Tagwerk nachgingen. Soldaten sahen wir auf den Türmen, und wir wußten, daß auch sie ihre Gläser auf uns gerichtet hatten.

Und dennoch, was sich vor uns hingebreitet hatte, weit aufgetan dem Blick, dem keine Schranken und Zäune und Türme wehren konnten, war unsere Heimat, und sie redete zu uns mit jedem Bild, das die kurze Stunde schenkte: der dunkle Ernst des Waldes, die Moldau, die durch das sanftere Land ihren Weg suchte, spiegelnde Teiche, der Würfel der Burg Wittinghausen und dort, wo der Wald wieder anhebt, die hellen Häuser des Marktes Oberplan.

Damals wußten wir noch nichts davon, daß wir einmal das Land nicht mehr so sehen würden, wie wir es an jenem Tag sahen. Heute dehnt sich dort, wo einst die Moldau ihren vielgewundenen Lauf hatte, ein See, übermächtig in den Ausmaßen für ein Land, in dem zu allen Zeiten das Gesetz des Bescheidens galt, weil der Boden karg war und der Mensch abgeschlossen von der großen Welt, wo sich manches begeben mochte, dem man nicht nachfragte.
Moldauherz und Teufelsschwellen sind nicht mehr. Dörfer sind ertrunken und mit ihnen ein ganzer Landstrich, der einst, ehe man sie forttrieb, Tausenden von Menschen Brot gab. Und Oberplan, dessen Häuser wir fernher leuchten gesehen hatten, liegt am Ufer des neuen Sees.

Als wir das zweitemal kamen, war Winter. Wie ein Jahr zuvor wollten wir den Beginn des neuen Jahres in unserer Gemeinschaft erleben, irgendwo draußen im Wald. Es sollte so werden, wie es am Laudachsee gewesen war, als wir um die kleine Kerze im Schnee standen, und seit wir im Herbst zum erstenmal an die Grenze gewandert waren, wußten wir: es wird im Böhmerwald sein.

Die kleine Schule von Sonnenwald gehört zur Ortschaft Schöneben in der Senke zwischen Bärenstein und Hochficht. Bis Ulrichsberg waren wir mit dem Autobus gefahren; von dort hatten wir noch zwei Wegstunden zu gehen.
Es war ein klarer Wintertag, als wir ankamen. Die Felder und Wiesen lagen tief verschneit, die kleinen, ärmlichen Häuser der Waldbauern und Forstarbeiter standen geduckt an den Wegen und an den Waldrändern. Der Oberlehrer hatte uns schon erwartet, er zeigte uns die Klasse, die er mit seinen Schulkindern für uns ausgeräumt hatte, den Herd, auf dem wir kochen durften.

Zwei Stunden später sah die Klasse bereits richtig wohnlich aus. Entlang den Wänden war Stroh aufgeschüttet, darauf lagen die Schlafsäcke und Decken, davor aber standen, ausgerichtet in zwei langen Reihen, vierzig Rucksäcke. Justl machte sich beim Ofen zu schaffen, und bald war es warm in der Stube, während es draußen zu dämmern begann und der kalte Frostwind um das Haus pfiff.
Ein paar Bänke hatten wir in der Mitte des Zimmers aneinandergerückt, und als der Oberlehrer kam, um nach uns zu sehen, saßen wir im Kreis und sangen eben das Lied vom böhmischen Wind. Es wurde ein langer Abend. Der Oberlehrer erzählte vom harten und mühseligen Leben der Menschen hier, von den Freuden und Nöten, die es das Jahr über in der kleinen Schule gab, wir erzählten vom Leben in unseren Gruppen, von unseren Fahrten und Lagern, wie wir uns zusammengefunden hatten und was uns zusammenhielt. Dazwischen sangen wir unsere Lieder, der Oberlehrer kannte viele davon und hatte sie mit seinen Kindern schon gesungen.

Diesmal fror keiner in der Nacht, denn wir hatten, wie es zu einem richtigen Lager gehört, Wachen eingeteilt, die freilich hier keine Runden zu gehen hatten, wohl aber von Zeit zu Zeit Scheiter in das Feuer werfen mußten, damit es nicht ausging. Und das Gespenst vom Laudachsee -- das damals um die Mitternacht, vor Kälte schlotternd, durch die Dachbodenluke in den Schlafraum gekrochen war und sich mit einem kläglichen, von allen mißdeuteten Heulen vergeblich als Gespenst auszuweisen versuchte -- es schlief mit den anderen wie ein Murmeltier, vergaß auf das Schlottern wie auf das Heulen und erwachte erst vom Gepolter der letzten Wache, die fand, es sei nun an der Zeit, ein Frühstück zu bereiten.

Es wurde ein richtiges Lager mit Wanderungen durch das verschneite Land, Schneeballschlachten und einem Nachtmarsch nach Ulrichsberg. Am letzten Tag des alten Jahres gingen wir auf den Bärenstein und für die meisten war es das erstemal. daß sie hinüberschauten über die Grenze.
"Dort hinter den Bergen ist Kaplitz", sagte Gretl, "dort bin ich daheim". Manche konnten zeigen, wo der Ort liegen mußte, in dem sie geboren waren, ein paar Stunden nur zu gehen, wenn nicht Stacheldraht und Minen und fremde Soldaten den Weg versperrt hätten.
Aber auch für die andern, aus dem Egerland und dem Erzgebirge, aus dem Riesengebirge und dem Schönhengstgau, aus Nord- und Südmähren war es ein Blick in die Heimat, die nicht im kleinen Raum begrenzt ist, sondern alles deutsche Land am Rande von Böhmen und Mähren umschließt.

Es kam der letzte Abend des alten Jahres mit Bleigießen und allerlei Orakeln, mit Lagerzirkus und Spiel und Tanz und übermütigen Liedern, während das Feuer im Ofen knisterte.
Als es aber gegen Mitternacht ging, wurden wir stiller und stiegen hinauf zum Waldrand. Schweigend standen wir um die kleine Kerze, die leise flackerte. Ein Jahr war zu Ende gegangen, ein neues hatte eben begonnen und hielt viel an Leben bereit für alle Tage, die es bringen würde.

Wir sind noch oft an der Grenze gewesen in den Jahren seither, auf Sommer- und Winterlagern und als an der mährischen Grenze das Gedenkkreuz errichtet wurde.
Wir halfen mit beim Bau der Adalbert-Stifter-Jugendherberge am Bärenstein, wo einige Jahre später unsere Spielschar eine Arbeitswoche hielt.

Und immer wieder war das Ziel unserer Gruppen, wenn sie auf Fahrt gingen, das Land an der Grenze: die dunklen Berge an der Moldau und die sanften Hügel an der Thaya.



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