Wilfried Stolle gehört zu den engagiertesten und kompetentesten Vertretern anspruchsvollen Laienmusizierens der Sudetendeutschen.
Geboren wurde er am 18. November 1937 in Iglau als erster Sohn der Eheleute Hildegard und Fritz Stolle.
Nach dem Krieg verschlug es die Familie zunächst nach Bayern, dann ins Hessische, wo Wilfried Stolle 1958 in Korbach das Abitur
ablegte. Ein Studium für das Höhere Lehramt der Fächer Germanistik und Geographie schloss sich an, das mit einer Dissertation zur
gesamtbairischen Dialektforschung gekrönt wurde. Nach dem zweiten Staatsexamen fand Stolle 1968 eine Planstelle in Nürtingen,
wo er bis zu seiner Pensionierung im Juli 2001 als Lehrer tätig war.
Soweit einige Stationen der äußeren Biographie, die darüber hinwegtäuschen könnten, dass Wilfried Stolle hinsichtlich Begabung und
Neigung eigentlich ein Musiker ist. Schon früh wurde er durch seinen Vater Fritz, der 1941 den Iglauer Singkreis unter dem Namen
Iglauer Singschar gegründet hatte, an das Singen, ans Klavier- und Geigenspiel herangeführt.
Die Ungunst der Kriegs- und Nachkriegsjahre brachte es mit sich, dass der junge Stolle sich nicht so weit im Instrumentalspiel
vervollkommnen konnte, wie es zur Aufnahme eines Schulmusikstudiums erforderlich gewesen wäre und deshalb von dieser Idee Abstand
nahm. So ist Deutschland mit Sicherheit ein inspirierender Schulmusiker verloren gegangen -- sehr zum Vorteil und Nutzen des Iglauer
Singkreises, auf den sich Wilfried Stolles künstlerisch-musikalische Ambitionen nun umso stärker und -- ausgleichend zum Brotberuf --
richteten.
Über Winfried Stolle als Musiker zu sprechen, heißt, den Iglauer Singkreis -- im engeren den Iglauer Südsingkreis --
zu loben und umgekehrt. Man übertreibt kaum mit der Feststellung, dass Stolle den Singkreis so nachhaltig geprägt, künstlerisch
angeleitet und auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet hat wie kein anderer sonst.
Das sei im Weiteren verdeutlicht. Wenn dabei die Qualitäten des Singkreises selbst ein wenig in den Hintergrund treten -- das
Ensemble erhielt den Volkstumspreis bereits beim Sudetendeutschen Tag in Stuttgart 1965 --, so nur, um die spezifischen Meriten
Wilfried Stolles umso pointierter in den Blick zu nehmen.
Volkstumspflege ist, wenn sie denn ernst genommen wird, nichts Statisches, sondern etwas substantiell Dynamisches. Tradition lebt
aus der Praxis heraus; und wo eine bestimmte Iglauer Prägung als Bewahrens wert gilt, hilft man ihr vor allem dadurch, dass man sie
auch Neues aufnehmen lässt. Es gibt keine reine Lehre der echten Volksmusik; und sollte der junge Wilfried Stolle tatsächlich je an
eine solche geglaubt haben (er behauptet das in seinen Erinnerungen), dann nur, um sich von dieser Vorstellung später umso bewusster
zu distanzieren.
Öffnung ist sein Leitprinzip: Man kann sich gesellschaftlichen Entwicklungen nicht dauerhaft verschließen, insbesondere
nicht im Blick auf die jüngere Generation. Und so greift die Volksmusik denn auch notwendig gewisse Impulse der Kultur der Umgebung,
auch der Massen- und Popkultur auf -- bleibt zumindest nicht unbeeindruckt von ihnen.
So wie die Vertriebenen nach dem Krieg in Bayern heimisch geworden sind, wurde auch ihre Volkskunst heimisch -- sie bezieht
heute, wie im Falle des Iglauer Singkreises, ganz selbstverständlich Volksmusik des bairischen Dialektraums in Form von
Stubenmusik ein. Und in der praktischen Chorarbeit profitiert man ganz ohne Berührungsängste von Erkenntnissen und Handreichungen
asiatischer Atemtechnik und der Zen-Meditation.
Öffnung bedeutet aber noch mehr, etwa Offenheit gegenüber dem Kreis der Mitwirkenden -- schon bald nach dem Krieg fanden
auch Jugendliche ohne Vertriebenenhintergrund, ohne emotionale Beziehung zu Flucht, Vertreibung und der Sprachinsel, ihren Weg in
den Iglauer Singkreis.
Offenheit aber auch gegenüber den Generationen und den sozialen Milieus: Die Nachwuchs- und Erziehungsarbeit genießt beim
Iglauer Singkreis höchsten Stellenwert, darin inbegriffen die Einübung auch sozialer Tugenden. Dort wirken Handwerker wie
Universitätsprofessoren mit, Schüler wie Manager -- entscheidend ist allein die Freude am gepflegten Chorgesang und an der
rhythmischen Bewegung, die Fähigkeit zur Toleranz und zum gemeinsamen Gestalten, der Wille, an sich selbst zu arbeiten, wie Stolle
in seinem Buch Ich fahre zum Iglauer Singkreis (Nürtingen 2006) schrieb.
Offenheit schließlich auch nach außen: Seit seiner ersten Reise nach Schweden 1954 hat sich der Iglauer Singkreis als Brückenbauer verstanden. In diesem Geist konnten dann auch nach der Wende 1989 neue Kontakte zu den tschechischen Nachbarn geknüpft werden.
Aktives Singen, Tanzen und Musizieren -- auf qualitativ anspruchsvollem Niveau, ohne den Laienbereich zu verlassen und sich an den Musikprofis messen zu wollen: Das ist die Welt Wilfried Stolles -- sein Rezept der Selbstvergewisserung. Diese Art aufgeklärter Volkstumspflege betreibt Stolle seit nunmehr 60 Jahren leitend und gestaltend, seit er die Geschicke des Iglauer Singkreises verantwortet.
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