Schülerprotest 1938 in Komotau

Anmerk Red: Im Zuge der durch die Regierung der CSR vorangetriebenen Tschechisierung der Sudetengebiete, wurden nach 1919 viele tschechische Arbeiter und Beamte aus dem Inneren der CSR in die deutschsprachigen Gebieten versetzt. Diese meist nationalistisch gesinnten Staatsdiener, also auch die Eisenbahner, hatten meist weder deutsche Sprachkenntnisse noch Sympathien gegenüber den deutschen Bewohnern.
Die gegenseitige Abneigung steigerte sich oft zum Hass. Dieser konnte sich von Handgreiflichkeiten bis zu Schlägereien, wie im hier beschriebenen Fall steigern.

Jede Volksgruppe pflegte zur gegenseitigen Abgrenzung auch bestimmte äußere, oft provozierende Erscheinungsformen. Dazu gehörten bei den Deutschen das Dirndl der Mädchen und die weißen Kniestrümpfe der Burschen.

Ein Gymnasiast von damals berichtet:


In den Jahren 1938 war die politische Lage in der CSR äußerst gespannt. Das ging auch an unserer Schule nicht vorüber. Eines der dramatischsten Ereignisse unserer Schulzeit war eine spontane Schülerdemonstration, die an einem Vormittag begann und schließlich auf die gesamte arbeitende Bevölkerung von Komotau übergriff.

An jenem Morgen erfuhren wir noch vor Schulbeginn. daß unsere Fahrschüler, die täglich von Oberleutensdorf, Seestadtl, Görkau u.a. Orten per Eisenbahn zur Schule kamen, nicht kommen könnten, weil sie vom Personal der Bahn, von Tschechen, verprügelt und belästigt worden seien, vermutlich wegen ihrer weißen Zopfstrümpfe u.a. Kleidungsstücke, die provozierend sie als junge Deutsche auswiesen.

Als wir das hörten, war es mit der Ruhe vorbei. Es war nicht alleine ein Protest und eine Empörung aus Rechthaberei, sondern es war Angst, Bedrängnis und Bedrohtsein, das uns die Ruhe raubte und einen normalen Unterricht unmöglich machte. Eine Abordnung aus den Oberklassen bat die Direktion um Schließung der Schule an diesem Tag, da die Empörung unter diesen Umständen jeden Unterricht unmöglich mache.
Das wurde gewährt, die Schüler zogen durch die Stadt die Weingasse herunter.
Die erste Station um Hilfe und Verständnis war die Direktion der Bürgerschule, dann ging es weiter zur Staatsgewerbeschule und zur Lehrerbildungsanstalt, wo jeweils eine Abordnung von der Direktion die Schließung der Schule erwirkte, schon deshalb, weil dort eine ähnliche Situation bestand und ähnliche Beängstigung herrschte.
Es war ein politisches Pulverfaß, ein Nationalitätenstreit, der jeden Moment in eine Katastrophe ausarten konnte.

Wir formierten uns ganz spontan zu einem Demonstrationszug, dem sich bald Teile der Bevölkerung anschlossen. In der Stadt war helle Aufregung, wie ein Lauffeuer ging es von Amt zu Amt, von Behörde zu Behörde, von Betrieb zu Betrieb. Schließlich schlossen sich uns Gruppen von Mannesmann-Arbeitern in blauen Monteurkitteln an, die ihre eigenen Kinder schützen wollten.
Ein unüberschaubarer Zug wälzte sich durch die Stadt und wuchs und wuchs, und wir, die wir es mehr oder weniger eingefädelt hatten, bekamen es langsam mit der Angst zu tun, denn wir mußten gewärtig sein, daß an jeder Kreuzung irgendwo ein Kordon Gendarmerie auftauchte, der mit Gewalt den Zug stoppen könnte.
Es wäre nicht das erste Mal gewesen.

In 8er- und 10er-Reihen zogen wir durch die Straßen. Langsam wurde uns bange vom Ausgang des Massenaufstandes.
Von der Plattnerstraße ging es an der Landwehrkaserne vorbei. Am Kasernentor, das an diesem Tag geschlossen war, sahen wir Soldaten mit schußbereitem Gewehr und glaubten sogar, die Sicherheitsflügel klicken zu hören, als wir vorbei kamen.
Auf diesem kurzen Stück des Weges wurden wir von ein paar handfesten Männern eingeholt, in deren Mitte eine Fahne getragen wurde, und zwar von Bock Hans. Es war die schwarz-rot-schwarze Fahne der sudetendeutschen Volksbewegung. Ein Ruck der Erleichterung ging durch die Reihen unserer Mitmarschierer und wir erkannten, es wurde uns offenbar geholfen, die Verantwortung mitzutragen. Offensichtlich hatten erfahrene Männer die drohende Gefahr erkannt und einen Plan gefaßt, der darin gipfelte, daß der Zug in eine geregelte Bahn gelenkt werde.

Es entstand noch einmal eine bedrohliche Situation, als wir an einem Bahnübergang feststellten, daß die Bahnschranken plötzlich geschlossen wurden. Es war eine durchaus verantwortungsvolle Schutzmaßnahme des tschechischen Schrankenwärters, die kurz vor Durchfahrt des nächsten Zuges notwendig war, von uns aber als Drohgebärde aufgefasst wurde.
Nur mit Mühe wurde die Ungeduld gezügelt und die Erklärung des Mannes an der Schranke akzeptiert.

Und dann ging die Parole von Mund zu Mund: Wir sammeln uns zur Kundgebung auf dem Jahnspielplatz!
Bald füllte sich der große Platz mit den Teilnehmern des Zuges.
Der Abgeordnete Franz Nemetz verurteilte die Schülermißhandlung scharf und stimmte unserer Empörung zu. Damit wäre der Sinn des Umzugs erfüllt und unser Wille dokumentiert. Nun dürften wir uns nicht weiter provozieren lassen und zur Vermeidung einer Katastrophe in Ruhe und einzeln nach Hause gehen. Vor dem Platz stünden -- nach Verhandlung mit ihm -- Einheiten der tschechischen Gendarmerie, die den ruhigen Ablauf der Massen gewährleisteten.

Als wir dann erleichtert und zufrieden mit diesem Ergebnis den Platz verließen, mußten wir durch Reihen von grünbehelmten Gendarmen mit aufgepflanztem Bajonett hindurchgehen, denen man allerdings ansah, daß sie ebenfalls erleichtert waren, daß es zu keiner weiteren Maßnahme kommen mußte.
(Noch am selben Tag wurde über Komotau das Standrecht verhängt).

Helmut Weber


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