Meine Familie lebte in einem damals vielleicht 12.000 Einwohner zählenden Ort Oberleutensdorf am Fuße des Böhmischen Erzgebirges. Nach Angaben im Sudetendeutschen Atlas wuchs der Bevölkerungsanteil der tschechischen Bevölkerung von 3 % im Jahr 1903 auf 39 % im Jahr 1939. Zwischen Brüx, Dux und Komotau hatte sich durch den Zuzug von Bergarbeitern und durch Tschechisierungsmaßnahmen eine tschechische Sprachinsel gebildet. Der Volkstumskampf war bei uns entsprechend aggressiv.
Mein Großvater, Eduard Richter, gehörte nach Berichten aus meiner Familie zur Deutschen Gewerbepartei, mein Vater, Franz Richter, hatte 1932 für die Sudetendeutsche Heimatfront kandidiert und wurde über die nachfolgende Sudetendeutsche Partei 1933 zum Bürgermeister gewählt.
Mein Vater und meine Mutter, Gretel Richter geborene Fischer, waren aktive Mitglieder im Sudetendeutschen Turnverband. Auch wir drei Schwestern, Loni, Gretel und ich, wurden schon früh in die Kindergruppen des Turnverbandes gebracht.
Wenn ich die vielen Erzählungen meiner Mutter analysiere, gehörten meine Eltern zumindest in den letzten Jahren vor dem Anschluss zur Gruppe Aufbruch in der SdP und unterstützten den Anschluss.
Meine Mutter erzählte viel von Hausdurchsuchungen durch das tschechische Militär und auch davon, dass unsere Spedition fast zum Bankrott getrieben wurde, weil der Firma die Lizenzen für Staatsaufträge (Postfracht, Bahnfracht) entzogen wurden, die sie schon seit der Gründung durch den Großvater besaß.
Mehrfach kamen die Schwester, so erzählte die Mutter, weinend aus der Schule, weil sie wegen ihrer weißen Kniestrümpfe von tschechischen Buben angegriffen und mit Steinen beworfen worden waren.
Ich sitze -- etwa drei Jahre -- auf einer kleinen Mauer in einer Gasse und habe einen großen
Blumenstrauß. Den solle ich, so sagte die Mutter aufgeregt, einem Mann schenken, der Konrad Henlein
heiße.
Ich sehe vor mir, wie ich plötzlich erschrak, weil ich irgendwoher mit Steinen beworfen wurde.
Ich ließ den Blumenstrauß fallen und wurde weinend weggezogen. Und ich sehe vor mir beim Ausziehen
daheim blutige Kniestrümpfe.
Im Rahmen der Mobilmachung 1938 wurde in unserem Grenzgebiet tschechisches Militär zusammengezogen. Und im Sommer 1938 wurde mein Vater verhaftet und im Zuchthaus Pankraz inhaftiert. Meine Mutter, die den Betrieb weiterführte, unterlag der Zwangspflicht zur täglichen Meldung mit allen 12 Pferden bei der Polizei in Oberleutensdorf.
Im September 1938 wurde von der Sudetendeutschen Parteien empfohlen, daß sich deutsche Frauen und Kinder aus den Militäraufmarsch-Gebieten in Sicherheit bringen sollten. Meine Mutter war aber wegen der Geschäftsführung und wegen der Ungewissheit über unseren Vater nicht bereit, zu flüchten. Sie beschloss, meine beiden Schwestern und mich mit einer Tante und deren Sohn nach Deutschland zu schicken.
Ich erinnere mich in Einzelbildern genau an diese Flucht, obwohl man doch sagt, Menschen hätten keine Erinnerungen an ihre frühe Kinderzeit. Ich war damals 3 Jahre alt.
Ein tschechischer Junge, Erwin, hatte in unserer Spedition gelernt und hatte als Waise und gleichaltrig mit meiner Schwester Loni bei uns etwas Familienanschluss. Meine Mutter hat ihn ausgewählt, uns mit Vaters Auto zur Grenze zu fahren.
Wir überqueren den Grenzbach, Erwin trägt mich auf den Schultern. Meine weinende Mutter hält meine Hand bis zum deutschen Ufer, meine Schwestern und mehrere Leute gehen mit uns. Am deutschen Ufer bleiben meine Mutter und Erwin winkend zurück.
Unsere Familiengruppe ist in einer fremden Wohnung (Delitzsch) und nette Leute verwöhnen uns. Ich esse zum ersten Mal Pudding und wir fahren in den Zoo nach Leipzig.
Wir wurden offensichtlich mit vielen Flüchtlingen aus der Tschechei nach Goslar gebracht und in einem großen Heim einquartiert.
Ich sehe vor mir ein mit weißen Möbeln ausgestattetes Zimmer. Am Schrank sitzt ein schwarzes Tier, das mir Angst macht. Ich wache immer nach Alpträumen schreiend auf.
Offensichtlich hatte ich viel Heimweh, denn tagsüber bin ich oft ausgerissen und bis in die Stadt gelaufen. Erinnerungsbilder zeigen mir Einzelbilder einer fremden Stadt und des Heimes.
In den 1960er Jahren kam ich einmal nach Goslar. Ich konnte ohne Vorbereitung, ohne Information und ohne Plan durch die Stadt bis zu jenem Heim gehen.
Im Heim war -- so wurde mir erzählt -- eine tschechische Zeitung ausgehängt, in der eine Liste mit Deutschen, die im Zuchthaus erschossen worden seien, abgedruckt war. Der Name meines Vaters soll auf dieser Liste gestanden haben.
Ich erinnere mich an viele aufgeregte Leute in einem Speisesaal. Ich wurde immer wieder von fremden Frauen gestreichelt und geherzt und hatte Angst.
Wir waren wieder daheim. Ich spüre noch die Freude und sehe das Bild unseres großen Hausflurs, in dem die Eltern und die Großmama standen und uns begrüßen.
Über die Treppe kommt ein braungebrannter junger Mann, von dem die Eltern sagen: Hab' keine Angst mehr, die haben uns befreit.
Ich hatte immer viel Heimweh. Während meiner Schulzeit wurde ich mehrfach in den Ferien nach Aussig und nach Katharinaberg geschickt. Aber nach zwei oder drei Tagen musste ich wieder abgeholt werden, weil ich so Heimweh hatte.
Heimweh quälte mich auch nach 1945 noch viele Jahre lang. Heimweh nach Oberleutensdorf habe ich eigentlich erst etwa 1995 verloren, seit ich bei mehreren Besuchen meine für mich entsetzlich verfremdete Heimatstadt wieder sah.
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