Besuch auf der Hallig Hooge

beim Bundesjungenschaftslager 1959

Schläfrig blinzeln wir in die pralle Sonne. Heute ist auf dem Meer nichts los. Kein Sturm, kein Wellengang. Da lohnt es sich kaum den Kopf zu heben.
Das gleichmäßige Motortuckern unseres kleinen Kutters hat uns richtig eingeschläfert.

„Land in Sicht!", brüllt einer.
Jetzt kommt Leben in die schläfrige Bande. Bald taucht eine niedrige Steinmauer auf. Es ist der festgefügte Sommerdeich unseres heutigen Fahrtenziels, der Hallig Hooge.

Ein schmaler, vom Salzwasser gebeizter Landungssteg, ein paar Steintreppen -- „Morgen mit einlaufender Flut hole ich euch wieder“, ruft uns der Kutterführer noch zu. Wir hören es kaum. Schon stehen wir oben auf dem Deich.

 eine Warf

Fast zwei Wochen treiben wir uns nun schon an der Nordseeküste und auf der nordfriesischen Insel herum. Das Meer, der Strand, die Dünen sind uns vertraut. Aber hier das -- das ist doch anders.
Die ganze Hallig ist grasig und tischeben. Zahlreiche Priele durchschneiden das Land. Es sind natürliche Wasseradern, sie führen Salzwasser. Bei großer Durchfeuchtung sollen sie den schweren Marschboden entwässern.
Einige Erdhügel, sogenannte Warfen, ragen über die Weidefläche. Dort oben stehen also die Häuser. Fast sind sie nicht zu erkennen, denn sie stehen inmitten alter Bäume mit mächtigen Kronen.

Quer über Koppeln, an grasendem Vieh vorbei, marschieren wir auf die erste Warf zu. Als wir über einen schwankenden Steg, der mit einseitigem Geländer über einen Priel führt, näherkommen, können wir auch die Häuser entdecken. Dicht gedrängt stehen Wohnhaus, Ställe, ja sogar der Garten und der Heuvorrat auf der Warf beisammen.

Verschlossen und wortkarg sind die Menschen hier. Der Bauer teert gerade sein Boot. Er lässt sich durch uns in seiner Arbeit gar nicht stören.
Er besitzt keine Kornfelder. Der schwarzbraune Marschboden ist viel zu salzig, um etwas anderes als Gras gedeihen zu lassen. Der eine oder andere hat es wohl schon mit dem Korn versucht, aber die nächste Sturmflut, die trotz dem festen Deich fast jedes Jahr über die Insel schlägt, hat mit ihrem salzigen Wasser alles wieder vernichtet.
Als wir ihn nach dem Pfarrhaus fragen, nimmt der Bauer seine Pfeife aus dem Mund und deutet mit ihr auf eine Warf, nicht weit von hier.

Der Pastor ist ein wenig gesprächiger.
Zuerst zeigt er uns seine Halligkirche. Von außen unterscheidet sie sich kaum von anderen Hallighäusern. Nur der schwarze, hölzerne Glockenturm und der kleine Friedhof neben dem Hause lassen erkennen, dass hier der Mittelpunkt der zweitgrößten nordfriesischen Hallig liegt.

Der Pastor erzählt uns:
„Kurz vor dem Ersten Weltkrieg bekam Hooge seinen Steindamm. Jetzt kann die Flut kein Land mehr wegreißen; aber er ist doch zu niedrig, um die Sturmfluten im Frühjahr und Herbst abhalten zu können. Das Wasser steht dann bis an die Warfen heran und braucht Tage, bis es durch die Priele abgelaufen ist.
Die Wiesen sind dann braun und tot. Dann können wir Halliger nur um Regen beten, denn der wäscht das Salz aus dem Boden und lässt das Gras wieder gedeihen.

Für uns kann es überhaupt nicht genug regnen. Regenwasser ist unsere einzige Süßwasserversorgung.
Ihr seht auf jeder Warf einige Erdlöcher. Meist sind sie von Bäumen umstanden. In diesen Löchern, den so genannten „Feethingen“, wird das Regenwasser gesammelt. Aus ihnen wird das Vieh getränkt.
Wir Menschen benutzen das Wasser, das in den kleinen Zisternen gesammelt wird. Sie liegen in den kleinen Gärten und das Wasser in sie fließt von den Strohdächern unserer Häuser.
Ganz schlimm wird es, wenn der Feething austrocknet oder voll Salzwasser schlägt. Wenn uns dann kein Tankschiff vom Festland mit Süßwasser versorgen kann, muss das Vieh geschlachtet werden. Und das Vieh bildet hier doch die einzige Nahrungs- und Erwerbsquelle . . .

Ja, das Leben unserer Halliger ist so ganz anders als auf dem Festland, aber auch anders als auf den größeren Inseln.
Im Sommer legt bei ruhiger See zwei- bis dreimal in der Woche ein Schiff an. Aber im Winter, oder in der Zeit der Stürme sind wir hier von der Welt abgeschnitten. Der Halligbauer muss in seinem Haushalt immer gleich für ein halbes Jahr vorsorgen.
Passieren darf dann auch nichts. Wir haben ja hier auch keinen Arzt. Da muss sich jeder selbst helfen.
Wenn im Frühjahr das Eis gebrochen ist und die ersten Schiffe fahren können, kommt dann die Post, die sich den ganzen Winter über angestaut hat.

Viele Dinge, die dem Festländer selbstverständlich sind, kennen wir gar nicht: Elektrisches Licht, Radio, Telefon, das alles fehlt hier. Wir sind froh, wenn wir einmal in der Woche die Zeitung lesen.
Jeder sturmfreie Tag, jeder langanhaltende Regen wird uns zum wahren Gottesgeschenk.

Aber fragt ihr einen von den hundertsiebzig Menschen, die auf den zehn Warfen wohnen, warum er nicht mit seiner Familie aufs Festland zieht, er wird euch verständnislos anschauen.
Der harte Kampf ums tägliche Brot, die ständige Angst -- wird die nächste Sturmflut nicht doch die Warf erreichen und Haus und Hof mitreißen? -- das alles hat die Menschen zu einer festen Gemeinschaft zusammengefügt, ohne die keiner leben könnte. Den Hoogern ist dieses Fleckchen Boden eben ihre Heimat, die sie jeden Tag gegen die Naturgewalten verteidigen müssen, die sie aber niemals gegen den schönsten Bauernhof auf dem Festland tauschen würden."

Unterhalb der Kirchwarf haben wir für eine Nacht unsere Zelte aufgeschlagen. Vor dem Einschlafen hören wir noch lange von allen Seiten das Meer rauschen. Und denken an die letzten Worte des Pastors -- Es ist eben ihre Heimat, auch wenn sie nur das Notdürftigste zum Leben gibt; keiner will diesen Fleck Erde verlassen.

Wir haben Hochachtung vor diesen wortkargen und schwerfälligen Menschen bekommen.



    Home