Beim Bundesjungenschaftslager 1958 in Gaisthal

Die Grenzwanderung

Freitagmittag: Strahlend heiß scheint schon seit dem frühen Morgen die Sonne auf das Lager.
Der Zeltplatz gleicht einem Ameisenhaufen. Vor jedem Zelt stehen halbverpackte Rucksäcke.

Erich Kukuk mit den Kurzen, Foto von Helmut Nachtigall

Gleich nach dem Mittagessen verlässt eine schwerbepackte graue Kolonne das Lager. das genaue Ziel ist unbekannt. Doch jeder weiß, es geht jetzt drei Tage der Grenze entlang.

Erbarmungslos brennt die Sonne auf uns nieder. Eine Stunde marschieren wir auf schon auf der staubigen Straße. Jetzt geht‘s sogar den Berg hinauf. Endlich Wald.
Gelobt sei was hart macht! Oft müssen wir die Zähne zusammenbeißen, um nicht schlapp zu machen.
Auch wir Älteren kämpfen manchmal verzweifelt den Berg hinauf und bewundern nur unsere Kleinen, die sich wirklich tapfer schlagen.

Nach drei Stunden -- die Sonne steht schon tief -- haben wir das erste Tagesziel erreicht. Wir stehen auf dem alten Schneeberg.
Unterhalb der Bergkuppe schlagen wir unsere Kohten auf.

Hell leuchten die Feuer. Jede Schar kocht selbst.
Nicht weit von stehen ein paar Bauernhöfe. Die Kinder sitzen bald unter uns. Als wir dann Klampfen hervorholen und am Lagerfeuer unsere Lieder singen, kommen auch die Erwachsenen zu uns herauf. Die Frauen in ihren bunten Arbeitsschürzen -- die Männer mit langen Pfeifen.

Was ist das?
Von Westen schiebt sich eine schwarze Wolkenwand immer näher. Ab und zu wetterleuchtet es.
Als wir in unsere Kohten kriechen, grollt es dumpf in der Ferne.

Auf einmal fangen unsere Kohtenwimpel zu knattern an. Unter heftigen Böen wanken unsere Kohten. Die Wimpel reißen an den Stangen. Ein Ruf: "Die Wimpel kappen! Wir fliegen sonst weg!" Die ersten schweren Tropfen fallen. Grelle Blitze zucken.
Schlag auf Schlag folgt der Donner. Jetzt wird es dramatisch. Zehn Meter stehen die Kohten auseinander. Obwohl sekundenlang das ganze Plateau in fahles Licht getaucht ist, sehen wir kaum die Nachbarkohte, so dicht fällt der Regen.

Da -- das Kreuz der Kohte von Schar II bricht -- sie stürzt über den Köpfen zusammen. Abdeckplanen werden abgerissen. „Wimpel herunter - größte Gefahr!" Äxte fliegen hoch, Fahrtenmesser werden gezückt -- knirschend sausen die Wimpelmasten.
Der Regen peitscht ins offene Deckloch -- Riemen platzen -- im Nu sind wir nass bis auf die Haut. Nur gut, dass wir unsere Sachen in die Rucksäcke verstaut haben. Eine halbe Stunde tobt das Unwetter. Dann lässt der Sturm etwas nach.

Und die Kohten stehen.

Im tollsten Regen baut die Schar II ihre wieder auf -- Schar I und IV mussten zum Bauer in die Scheune, alles ist nass.
Wir anderen können bleiben. Etwas spät kommen wir zur Ruhe.

Diese Nacht wird keiner vergessen.

Dichter Nebel liegt im Tal. Ab und zu reißt der Wind ein Guckloch nach unten auf. In satten Farben leuchtet das Land. Der Regen hatte schon sein Gutes.

Der Marsch geht weiter.
Überall im Wald sehen wir geknickte und gestürzte Bäume.

Die kleinen Dörfer lassen deutlich erkennen, dass hier die Zivilisation fast noch nicht hergedrungen ist. Eine alte Wassermühle steht am Weg, von einem klaren Gebirgsbach angetrieben.

In Schönau machen wir Rast und kaufen ein. Vor uns liegt schon die Grenze -- da kochen wir im Wald ab.

Erneut zieht es schwarz auf. Wir kommen gerade noch dazu, aus den Kohtenplanen einige Notdächer zwischen den Bäumen zu errichten. Dann prasseIt es auf uns herein.

Haben wir gestern Nacht mit dem Sturm gekämpft, so ist es jetzt das Wasser von unten.
Sturzbäche kommen den Weg herunter, unsere Feuer sind schon lange aus. Ein kleiner Bach, vorher unscheinbar, droht auf einmal unser Gepäck wegzuschwemmen. In Hermanns kleinem Notzelt steht plötzlich das Wasser zehn Zentimeter hoch.
Unermüdlich bauen wir Dämme und Abflüsse. Spät gibt es Mittagessen.

Der Grenze entlang. Nach zwei Stunden sind wir in Stadlern.
Auf der Höhe gegenüber der Grenze schlagen wir die Kohten auf. Drüben erkennen wir die böhmischen Höhenzüge. Schweigend sitzen wir am Feuer beisammen.
Ossi und Rolf Nitsch sind gekommen. Tief beeindruckt hören wir Rolfs Lesung „Die Grenze". Die Grenze von 1938, von 1945!

4 Uhr Morgen.
Wir stehen am Birkenkreuz. Weißer Nebel steigt auf. Es ist schon licht -- nur die Sonne fehlt noch.

An der Grenze, Foto von Klaus Großschmidt

Plötzlich hallt durch die Stille ein Schuss. Echo. Stille.

Dort im Osten liegt deutsche Heimat, davor ein irrsinniger eiserner Vorhang. Starkstromgeladene Stacheldrahtzäune und lauernde, unerbittliche Posten.

Auf einer Aufnahme mit Tele-Objektiv ist eine Tafel zur Warnung, inmitten einer verunkrauteten, seit Jahren nicht mehr gemähten Wiese, ein weißer Punkt: der Grenzstein.
Da hinter die kahlen Mauern eines ausgeschlachteten, verfallenden Hauses, dessen sudetendeutsche Bewohner vor 13 Jahren vertrieben wurden.

Das Kreuz im Vordergrund mahnt. Wir haben eine Verpflichtung einer vergangenen Generation gegenüber, die ihr Leben für die Heimat ließ.

Erfüllt vom Erlebnis der Grenze kehren wir nach Gaisthal zurück. Der Rucksack drückt, die Füße voller Blasen.
Wie wir ausgerückt sind, marschieren wir in Gaisthal wieder ein.

Ein letztes Viereck um die Fahnen. Ein letzter Gruß an die Kameraden.

Das Bundesjungenschaftslager ist beendet.


Klaus aus Eichenried



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