Bericht über das Bundeswinterlager der Jungenschaft
1957
Fernab von Sessellift und Seilbahn schlängelt sich von Berchtesgaden her ein langer Zug den steilen Hang
hinauf. Wie ein Schwalbennest an den Hohen Göll gedrückt tauchte schon vor langem das Purtschellerhaus über
uns auf. Aber immer noch dauert es zwei Stunden, bis wir oben schweratmend ankommen. Rechts drüben, hinter
einer langen Wolkenfahne, liegt Salzburg; vor uns, fast zum Greifen nahe, glüht der Untersberg in der
untergehenden Sonne.
1800 Meter sind wir jetzt hoch. Die Hütte steht auf einem Ausläufer des Hohen Göll. Überall schaut der
blanke Fels hervor, der ständig wehende Wind hat den Schnee weggefegt.
Wir sind über 40 Mann, aus allen Bundesländern zusammengewürfelt. Ein halber Fanfarenzug der
Grenzlandjugend Schleswig/Holstein, Jungenschaftler von der Saar sind zu Gast. Misstrauisch prüfen sich die
verschiedenen Gruppen und Parteien und stellen die Führerschaft vor eine ernste Frage.
Aber in diesen zehn Tagen ist der bunte Haufen zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen.
Als vornehme Leute können wir es uns leisten, tagsüber im Ausland zu leben und abends in die Bundesrepublik zurückzukehren. Die Landesgrenze führt genau durch die Küche; der Tagesraum liegt im Salzburgischen, unsere Himmelbetten stehen im Bayrischen.
Der große Augenblick ist gekommen: Skikontrolle - Vorfahren!
Unser Übungshang liegt 500 Meter unter der Hütte. Vorher muss als Mutprobe ein fast senkrechter Hang
überwunden werden. Erich, Rochus, Walter und Roland, die stolzen Skilehrer, fegen talab. Wir anderen -- Augen
zu und hinterher! Allerdings weniger auf den Brettern.
Von unten erblicken wir ein tolles Bild: Seemänner von der Waterkant, das erste Mal auf Brettern. Unter einer großen Schneewächte zerlegt es den stolzen Fanfarenzug. Gegenüber löst sich die Saar auf. Dazwischen sucht die DJO ihre kläglichen Reste im Schnee. -- Am Abend soll mancher ehrfürchtig die Brettl in einer stillen Ecke betrachtet haben.
Ossi ist gekommen, mit ihm als Gäste, ein Gebirgsjäger und dessen Frau, das einzige weibliche Wesen neben
dem treuen Küchen-Personal. Sie hat es nicht leicht. Gewiss - ein Jungenschaftler ist ritterlich.
Aber wo steht denn geschrieben, dass er einer Dame kein Salz in den Tee oder Pfeffer aufs Marmeladenbrot
streuen darf?
Ihr Mann, ein Oberleutnant, nimmt uns dafür in die Gebirgsmarine auf.
Wir taten noch anders, als nur auf Brettln zu rutschen.
Da wechselten heftige Aussprachen mit praktischer Arbeit: Orientieren im Gebirge, Erste Hilfe im Winter,
Bau von Transportschlitten aus Skiern, sogar Iglus haben wir gebaut.
Einige waren kaum davon abzuhalten in den Schneehütten zu übernachten.
Fünf Mann aus dem hohen Norden werden mit Ausgangssperre belegt. Ihre Aufgabe:
binnen zwei Tagen jodeln können.
Tagelang ist die Luft von ihrem Gesang erfüllt, der wie das Heulen einer Horde Hunde in einer Mondnacht
anzuhören ist.
So eine Hochalpenhütte hat es in und an sich.
Die Quelle überm Hause eingefroren. Gewaschen wir mit Schnee oder -- gar nicht. Einfach pfundig.
Den höheren Rängen sprießt der Bart schon zentimeterlang. Für wen sollen sie sich schön machen?
Alles rümpft die Nase wenn die Rede auf Mädchen kommt.
Silvester: Skilehrer Rochus ist in der Nachbarhütte auf Besuch.
Für uns nicht diskussionsreif -- dort ist ein gemischtes DJO-Lager.
Mittag meldet der Mann am Ausguck: In zweitausend Meter Luftlinie am Gegenhang eine Riesenschlange
-- Bewegung in Richtung Purtschellerhaus! -- Es werden erkannt: Rochus an der Spitze einer Schar Gänse,
Verzeihung, Mädchen. -- Nie habe ich Jungenschaftler für eitel gehalten.
Es war ein Irrtum!
Innerhalb von zehn Minuten ist die Küche gestürmt, das Kaffeewasser für 40 Mann erobert. Im Schlafsaal kämpft man mit blankem, Fahrtenmesser um einen Platz am zerbrochenen Spiegel. Blut fließt unter Rasierklingen! Aber zur Begrüßung sind alle Schnittwunden fein säuberlich mit Zeitungspapier verklebt.
Gegen Abend kommt die ganze Lagerbelegschaft zu uns herauf.
Wir spielen: Große Wehrdebatte im Bundestag. Dann mustern wir die anwesenden Offiziere der Gebirgstruppe
auf körperliche und geistige Tauglichkeit. Wir lassen die ersten Truppen einziehen und schildern das Leben in
den Kasernen mit all seinen Schönheiten. Am meisten lachen die Soldaten.
Bei Fackelschein stehen wir auf einer Gipfelhöhe und erwarten den Anbruch des neuen Jahres.
Neujahrstag-Nachmittag: Maskentreiben auf dem Hang.
Allen voran brausen zwei dicke Schankwirtinnen, gefolgt von einigen Wüstenscheichen nebst Harem. Lucke
hat sich ein Rehgeweih vor den Kopf gebunden, er ist Schussstier. Lutz als Letzter purzelt in
Gebirgsjägeruniform (schnell mal eskamotiert) über den Hang.
Es fehlt nicht die längere Skiwanderung, es fehlt auch nicht der Schneesturm, der uns ins Haus zwingt. Meterhoch liegen die Schneewehen um die Hütte.
Als wir am letzten Morgen mit einem letzten Lied die vom Schneesturm halbzerfetzte Fahne niederholen, da wissen wir, dass so manche Frage in diesem 1. Bundeslager Antwort gefunden hat, dass aber noch viele auf eine Lösung warten. Aber wir haben den Anfang gemacht und sicher etwas erreicht. Ist das nicht schon etwas wert?
Klaus Großschmidt |
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