Winterlager 1953/54

Um die Jahreswende 1953/54 bot die SdJ-Hauptgruppenführung gleich drei Lager in den Berchtesgadener Bergen an:

Von letzterem liegt uns der Bericht eines Teilnehmers vor.
Sehen Sie zunächst eine gut lesbare Reproduktion des Textes.


Wir haben neue Freunde gewonnen

Bericht über das internationale Skilager am Roßfeld bei Berchtesgaden über Neujahr 1954

Das sei gleich vorweggesagt: wir glaubten schon in der Zukunft zu leben. Die sieben Tage am Roßfeld kamen uns vor, als gäbe es schon längst ein geeintes Europa. Französisch, italienisch, englisch, türkisch und deutsch wurde durcheinander geplaudert.

Die vorherrschenden Sprachen waren deutsch und französisch.
Mit dem Italiener Enzo mußten wir oft englisch zur Hilfe nehmen, wenn seine Deutschkenntnisse nicht ausreichten.
Am besten hatten es die Türken, sie beherrschten deutsch und französisch gleich gut. Necdet macht seine Doktorarbeit in Kiel und Üstün studiert Volkswirtschaft in Freiburg. Er ist der Sohn des früheren türkischen Wirtschaftsministers Prof. Ete -- jetzt im Europarat in Straßburg.
Die Franzosen gehörten einer Reisegesellschaft an, die über Weihnachten und Neujahr das Berchtesgadener Land besuchten.

Ein Teil der Franzosen, nämlich 4 Mädchen und 3 Jungen kamen zur Roßfeldhütte, um Skilaufen zu lernen. Am 23.12. waren sie schon da und fühlten sich recht verlassen, weil sie keinen Anschluss fanden. Erst als wir am 27.12. unser Lager begannen und sie in unsere Gemeinschaft aufnahmen, lebten sie auf.

Rochus Reiter, Hans Buchner und Rudi Strzygowski, alle aus Berchtesgaden, brachten ihnen die ersten Künste am Hang bei.
Am Abend, nach dem Essen wurde schon das erste mal gemeinsam gelacht. Damit war das Eis gebrochen.
Wenn auch die ersten Versuche, das Schulfranzösisch bzw. Schuldeutsch auszusprechen mißlangen, half doch gleich jeder dem anderen und versuchte, ihn zu verstehen.
Als dann Hanne Peterschik, Melsungen, auf dem Akkordeon international bekannte Lieder und Musikstücke anstimmte, sangen oder summten alle mit.

Der Morgen brachte ein völlig anderes Verständigungsmittel. Philippe und Claude begannen nämlich ihre Morgengymnastik auf ihre Art. Kaum war der eine erwacht und hatte sich entschlossen, seine Decken im eisigen Schlafraum abzustreifen, als er sich auch schon auf seinen Nachbarn stürzte und ihn mit Kopfkeilen und Kissen zu traktieren begann. Bald griff diese Schlacht auf andere über.
Ich glaube, daß es wohl die erste Schlacht zwischen Deutschen und Franzosen war, die bei steigender Heftigkeit immer größere Freundschaften mit sich brachte.

Mancher Leser dieser Zeilen wird sich darüber wundern. Aber der Zweck heiligt hier die Mittel.
Nach jeder Schlacht verstanden wir uns besser. Da wurde nämlich alles abgeschaltet, wir waren nicht mehr Franzosen, Türken, Deutsche und Italiener, sondern Jungen, die wohl in allen Ländern der Erde gleich sind.

Der dritte Abend entstand ganz seltsam.
Die Fußkranken waren zuhause geblieben und wollten uns mit einem türkischen Lied überraschen, das ihnen Üstün beigebracht hatte. Die türkischen Lieder sind aber viel zu schwer für uns Europäer. Als wir heim kamen, begannen alle zu üben: Ilimon ektim tascha, ilimon yaxx amann . . . .
Bald wurden auch andere Lieder gesungen und Walter Fritsch, Paderborn, schlug vor, Lieder aller Nationen zu singen. So erklang, einzeln vorgetragen: französische, italienische, türkische, deutsche, englische, tschechoslowakische und ins Deutsch übersetzte Lieder aus Schweden, Litauen und Polen.

Die Jahreswende verlebten die Franzosen und ein Teil der Deutschen in Berchtesgaden, während die Türken und der Rest der Deutschen zur Ahornalm fuhren.
Dort erlebten wir eine eigenartig schöne Sylvesternacht. Ernste und heitere Gespräche wechselten, sprudelnder Humor löste besinnliche Heiterkeit ab, bis das neue Jahr anbrach und von den anderen Hütten Feuerzeichen herübergrüßten.
Statt lauter Fröhlichkeit trat ruhige Besinnung ein die im Lied: Nichts kann uns rauben Liebe und Glauben . . . ihren tiefsten Ausdruck fand.
Auch die Türken gedachten der fernen Heimat, gleich uns. Ein fester Händedruck im Schein der Fackeln verband uns umso mehr.

Überhaupt hatten es die Gespräche mit den ausländischen Freunden uns angetan. Auf abendlichen Spaziergängen unter dem besternten Himmel, die tausend Lichter von Berchtesgaden und Salzburg tief unter uns, ließen wir die Gedanken schweifen und rückten immer näher an das Wesentliche heran.
Es trafen sich hier zwei Welten, das Abendland und der Orient. Besonders der Islam trat uns in den beiden Vertretern das erste mal unvermittelt entgegen. Und wie staunten wir, als wir Gedankengänge hörten, die uns gar nicht befremdeten.
Wir fragten viel und bekamen gut einleuchtende Antworten. Bald kamen wir darauf, wie irrig unsere Anschauungen über den Islam zuweilen waren. Und noch mehr! Heute wissen wir, daß wir nicht nur uns, noch fremde Völker verstehen lernen müssen, sondern auch fremde Religionen näher betrachten müssen. Sie haben alle ihre Berechtigungen und sind, wenn sie eingehalten werden für das betreffende Volk genau so wertvoll, wie die unsere für uns.
Man muß sich nur mit deren Vertretern unterhalten und in deren Wesen eingeführt werden.

Hierbei zeigte es sich, daß die Ostdeutschen, geformt durch ihr Schicksal, eine besonders gute Befähigung besitzen, sich in andere Völker hineinzudenken und sie zu verstehen. Und wieder bestätigen sich die Erfahrung, daß die an den Grenzen Lebenden im Umgang mit Ausländern eine glückliche Veranlagung haben.
Es macht uns einen Heidenspaß, wieder in unserem Element zu sein, nämlich mit anderen Nationen zu verkehren. Und von der anderen Seite wurde es dankbar angenommen.
Der Italiener sagt: Wenn ich wieder ein italienisches Lied lernen will, komme ich nach Deutschland. Wir hatten ihm einige ital. Lieder beigebracht.
Die französischen Freunde blieben bis zur letzten Minute vor der Abfahrt bei uns und erklärten, daß es ihnen wunderbar gefallen habe.
Die Türken waren sich einig, daß sie noch keine schöneren Sylvester gefeiert hatten.
Dem finnischen Mädchen gefiel es bei den Mädchen recht gut.

In diesen 7 Tagen klang es wie eine Sehnsucht in uns auf, nicht nur an das ferne Heimatland als solches, das nur noch wenige in Erinnerung haben, sondern nach den Menschen, die dort wohnen, mit denen wir in Gemeinschaft waren und mit denen unsere Eltern auch schöne Tage verlebten.
Ein Stück alten Pioniergeistes überkam uns, mit dem wohl unsere Vorfahren einst nach dem Osten gezogen waren, um unter fremden Völkern in Frieden und Gemeinsamkeit zu leben und gute und schlechte Zeiten mit ihnen zu teilen.
Das war das Geheimnis, das die Herzlichkeit auf der Roßfeldhütte so groß machte.
Wir teilten Freud und Leid. Einer half dem anderen und das war das einigende Band.
Daß wir uns mit den Türken besser verstanden, kam nicht nur durch die bessere sprachliche Verständigung, sondern entsprang aus dem Bewußtsein, Menschen aus dem Ostraum vor uns zu haben, aus dem Ostraum dem wir nun einmal angehören, von dem wir nicht lassen können, der unser Schicksal ist.

Am Roßfeld wurde es uns klar, welch große Aufgabe die DJO zu erfüllen hat: Mittler zu sein zwischen dem deutschem Volk und den Ostvölkern. Diese Aufgabe kann uns niemand abnehmen, dass eine innere Bereitschaft gegenwärtig sein muß, die man in sich fühlen muß. Es gehört eine große Liebe zum Ostraum dazu, ohne die es nicht geht.
Uns, die diese Liebe erfüllt, hat das Skilager 1953/54 Impulse gegeben, die lange nachhalten werden.

Wir sind reich nachhause zurückgekehrt, wir haben neue Freunde gewonnen. Wir wissen, welchen Weg wir zu gehen haben! Wir haben die große Aufgabe erkannt!


Leopold Hanel, Borken, 7.1.1954
 

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Nun noch ein Blick auf das teilweise ausgebleichte Original des Berichtes:
 

Bericht Hanel, Seite 01 Bericht Hanel, Seite 02
Bericht Hanel, Seite 03  

 



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