Wolfgang Egerter:

50 Jahre Gaisthal

Was bedeutet es?

Was kann es uns heute noch sagen?


Ein Diskussionsbeitrag, Juni 2000.


Wieder eines dieser runden Jubiläen.
50 Jahre Sudetendeutsche Landsmannschaft, 50 Jahre Sudetendeutsche Jugend und nun 50 Jahre Gaisthal.

Aber auch 10 Jahre Wiedervereinigung, 10 Jahre freie Wahlen in ganz Deutschland.

Also, Anlässe über Anlässe.

Sie geben Gelegenheit, denjenigen, die es erlebt haben, sich zu erinnern.

Allein die Einreihung Gaisthals in die Kette der anderen Jubiläen, vor allem der10-jährigen, verlangt eine Erklärung vorab.

Daß der kleine Oberpfälzer Ort nahe der tschechischen Grenze für Sudetendeutsche überhaupt Anlaß sein kann, sich seiner zu erinnern, verdankt er, wie vieles, was auch anderenorts Bedeutung erlangt hat, ausschließlich dem Zufall.
Hätte die amerikanische Besatzungsmacht 1949 Erich Kukuk an einen anderen Ort als Jugendpfleger des GYA, der wohl interessantesten Einrichtung zur Umerziehung der deutschen Jugend, eingesetzt, Gaisthal wäre so unbekannt geblieben, wie es bis dahin unbekannt war.
Aber so fand eben hier auf einer kleinen Wiese, eingerahmt von zwei Bächen, das erste Zeltlager der Sudetendeutschen Jugend 1950 statt.

Und dies soll Anlaß sein, 50 Jahre danach noch davon zu sprechen?

Ja, selbst die Tatsache, daß -- wenn auch inzwischen auf einem recht komfortablen Zeltplatz mit witterungsfestem Gebäude -- heute noch in Gaisthal Zeltlager stattfinden, kann wohl kaum genügen, den Ort mit einem Jubiläum zu verbinden. Und auch die nostalgische Erinnerung, das weißt Du noch der Klassen- oder Veteranentreffen kann es ja wohl nicht sein, um den Mythos Gaisthal -- von einem Mythos kann durchaus gesprochen werden -- zu verstehen.
Deshalb ist es notwendig, mit einigen Sätzen auf die Jahre vor dem Sommer 1950 einzugehen.

Als die Alliierten in den westlichen Besatzungszonen jeglichen überörtlichen Zusammenschluß von Flüchtlingen oder Vertriebenen mit einem Verbot belegten, fanden dennoch an verschiedenen Orten junge Menschen zusammen, die in fremder Umgebung die Nähe jener suchten, die ein ähnliches Schicksal getroffen hatte.
Es waren Menschen, oft im Übergang vom Jugendlichen zum jungen Erwachsenen.
Viele von ihnen hatten als Flakhelfer und Kriegsfreiwillige noch gedient.
Einzelne stellten sich in den örtlichen Flüchtlingsverbänden als Jugendreferenten zur Verfügung und richteten dann schon mal eine Weihnachtsfeier für Kinder aus, bei der die Bescherung im Mittelpunkt stand.
Wenn auch schon in dieser Zeit vereinzelt Sonnwendfeiern bezeugt sind -- neben der Pflege der Sehnsuchtslieder (Tief drin im Böhmerwald, Oh Du mein liebes Riesengebirge) bei den meist monatlichen Heimatabenden waren dies wohl die ersten Ansätze des Beginns heimatlicher Brauchtumspflege -- blieben diese Zusammenschlüsse sowohl in Form als auch in Inhalt aber im Unverbindlichen.
Das Ziel, eine den örtlichen Kreis übergreifende Organisation zu schaffen, gab es nicht, es war nicht einmal in Ansätzen zu erkennen.

Im Sommer 1949, inzwischen hatte sich die Sudetendeutsche Landsmannschaft gegründet, fanden an verschiedenen Orten der alten Bundesrepublik Kundgebungen der Sudetendeutschen statt.
So am 21. August in Forchheim/Oberfranken.
In unserem Zusammenhang ist diese deshalb von Bedeutung, weil hier zum ersten Mal einige dieser Jugendreferenten sich zu einem Gespräch zusammenfanden.
Man beschloß, sich zu einer Sudetendeutschen Junglandsmannschaft zusammenzuschließen, mit deren Aufbau der SL-Landesvorstand Bayern einen Landesjugendreferenten beauftragt hatte.
Über manch anderen Vorschlag konnte man schon kurze Zeit später nur noch schmunzeln.
So wurde doch allen Ernstes vorgeschlagen, die männlichen Angehörigen dieser Sudetendeutschen Junglandsmannschaft (SJL) in schwarz-rot-schwarz karierte Hemden zu kleiden, um damit die Farben des sudetendeutschen Heimatbundes der 20er Jahre aufzugreifen.
Immerhin ging aber von Forchheim die Initiative aus, neue Gruppen zu gründen. Aus den losen Zusammenschlüssen wurden Gruppen mit festeren organisatorischen Strukturen, die sich in der Regel an die Gliederung der Landsmannschaft anlehnten.

Eine Zusammenkunft von Verantwortlichen der SJL Bayern am 4. März 1950 in Ingolstadt und die dortigen Beratungen führten zu Entscheidungen, die einen beachtlichen qualitativen Sprung auf dem Weg nach Gaisthal bedeuteten.

Mit diesen drei Entscheidungen war der Weg nach Gaisthal, auch wenn den Verantwortlichen der Name noch nicht bekannt war, beschritten.

Und damit nun zu der Frage, worin liegt für die Sudetendeutsche Jugend die Bedeutung von Gaisthal?

Das Lager Gaisthal im Sommer 1950 währte vier Wochen, wobei wöchentlich die Belegung wechselte.
Entscheidend für die weitere Entwicklung der werdenden Sudetendeutschen Jugend war das Führerlager vom 20. - 27. August.

Zum ersten Mal waren Gruppenführer aus unterschiedlichen Regionen der alten Bundesrepublik, aber auch aus Westberlin, gekommen.
Altersmäßig waren es Menschen zwischen 15 und 30 Jahren.
Das heißt, es waren junge Menschen, von denen die Jüngsten noch kurz vor Kriegsende in die Hitlerjugend gekommen waren, die Älteren die Hitlerjugend bewußt erlebt, aber vor allem von der Jungturnerschaft des deutschen Turnverbandes in der Tschechoslowakischen Republik geprägt waren.

Es ist hier nicht der Platz, ausführlich darüber zu reflektieren, inwieweit im Sudetenland bündisches Gedankengut der Jugendbewegung, ausgehend vom Wandervogel über die Jungturnerschaft nach 1938 auch die Hitlerjugend in besonderer Weise prägte, die sich dadurch im Sudetenland trotz aller Gleichschaltungen, eben vom Altreich nicht unwesentlich unterschied.
Natürlich muß andererseits auch darüber nachgedacht werden, inwieweit von der Jungturnerschaft vor 1938 nicht schon Formen der Staatsjugendorganisation im Reich übernommen wurden.
Ganz sicher darf man wohl davon ausgehen, daß beide, Hitlerjugend und Jungturnerschaft, von Formen der bündischen Jugend beeinflußt waren.

Mir scheint es wichtig, auf diese Einflüsse einzugehen, weil sie sich vor allem in der Form, also in der Selbstdarstellung der werdenden jungen Gemeinschaft der Sudetendeutschen, in der Art, wie diese ihr Gemeinschaftsleben gestaltete, niederschlugen.
Ähnliche Erfahrungen treffen wohl auch auf andere Jugendverbände in dieser Zeit zu.
Ich erinnere mich, daß es in der Form damals kaum Unterschiede, etwa zwischen Gruppen der katholischen Georgspfadfinder, der doch von der Tradition her sozialistisch geprägte Naturfreundejugend oder etwa der Sudetendeutschen Jugend gab. Das Gruppenleben bestimmten eben überall Persönlichkeiten, die die gleiche Vergangenheit hatten.
Vor diesem Hintergrund sind Formen des Lagerlebens von Gaisthal zu verstehen. Morgenfeier mit Fahne hissen, abends Fahne einholen, Tischspruch vor jeder Mahlzeit usw.
Das Heißt Flagge als Kommando für das Aufziehen der Fahne, wurde als zu militärisch durch das mehr zivile Wir grüßen die Heimat ersetzt.
Ganz deutlich wird das Ineinanderfließen der Formen im Liedgut Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht, Jenseits des Tales oder die bekannten Baumannlieder ja sogar Nur der Freiheit gehört unser Leben waren selbstverständlich. Keiner nahm Anstoß daran, daß die gleichen Lieder von der Hitlerjugend gesungen wurden, weil natürlich auch keiner daran dachte, mit diesen Liedern nationalsozialistisches Gedankengut der HJ zu übernehmen.

Vor diesem Hintergrund sind auch Inhalt, Aussage und Form der Feiern zu verstehen, mit denen die neugeschaffene SdJ sich selbst darstellte und die diese Gemeinschaft prägten.
Die erste Feierstunde war die am 27. August bei Sonnenaufgang am Sudetenkreuz in Stadlern, oberhalb der deutsch-tschechischen Grenze.
Der Sprecher der sudetendeutschen Volksgruppe, Rudolf Lodgman von Auen, weihte die ersten Jugendfahnen. Im Mittelpunkt stand die Lagerfahne des Lagers Gaisthal, die von diesem Tag an zur Traditionsfahne der Sudetendeutschen Jugend wurde.
Lodgman signierte die von ihm geweihten Fahnen.

Aus heutiger Sicht mag dies alles unverständlich erscheinen und die zweifellos pseudo-religiösen Formen können nicht anders als kritisch beurteilt werden. Aber bei aller notwendigen Kritik sollten diese Formen aus der damaligen Zeit verstanden werden, müssen die unterschiedlichen Traditionsstränge berücksichtigt werden, die die Menschen, die die diese Formen für ihre Aussage wählten, prägten.
Viele Jahre bestimmten diese Formen die Feierstunden, etwa die, mit denen die Sudetendeutsche Jugend am Pfingstsonntag abend dem Sudetendeutschen Tag einen feierlichen Abschluß gab, bevor sie zum Fackelzug in Form eines Schweigemarsches durch die jeweils gastgebende Stadt aufbrach.

Wie oft stand in feierlichen Stunden am Feuer Rilkes Cornett im Mittelpunkt.
Seid stolz, ich trage die Fahne, seid ohne Sorge, ich trage die Fahne, habt mich lieb, ich trage die Fahne . . . .
Rilkes Worte beeindruckten und keiner dachte dabei an den Fahnenkult der NS-Zeit.
Übrigens, Marcel Reich-Ranicki berichtet in seinen Lebenserinnerungen vom Jüdischen Pfadfinderbund in Berlin und dem tiefen Eindruck, den ein Heimabend mit Rilkes Cornett auf ihn dort gemacht habe.

Bei oberflächlicher Betrachtung mögen die Formen unserer Feiern damals Anlaß zu Vergleichen mit der NS-Zeit geben; mit der NS-Ideologie hatte die sich nun formende Sudetendeutsche Jugend nichts, aber auch gar nichts, gemein.

Die recht unbefangene und kritiklose Übernahme von Formen muß sicher auch aus der Sicht der damaligen Zeit verstanden werden.

Hermann Rudolf hat kürzlich in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29. April 2000) von Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten geschrieben, daß er den Maßstäben heutiger Vergangenheitsbewältigung nicht unbedingt standgehalten hätte.
Heuss bekannte in einer Rede im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen, daß er von Belsen zum ersten Mal im Frühjahr 1945 gehört habe und auch Auschwitz war für ihn im Eigentlichen kein Begriff.
Selbst wenn, so schreibt Rudolf, wäre Heuss nie auf die Idee gekommen, in Auschwitz, wie für jüngere Deutsche heute üblich, den archimedischen Punkt der deutschen Geschichte zu sehen.
Es erscheint mir gerade gegenüber jenen, die mit den Erfahrungen von heute oder auch schon der sechziger Jahre über die Nachkriegszeit urteilen, richtig, auf das Beispiel Heuss hinzuweisen.

Für die jungen Vertriebenen kommt hinzu, daß sie durch die Vertreibung all die Bindungen verloren hatten, die Heimat den Menschen gibt. So standen insbesondere jene, die aus Gefangenschaft und Krieg, in den sie von der Schulbank aus gezogen waren, vor einem nahezu totalen Nichts, ohne Beruf, ja oft nicht einmal mit einer beruflichen Ausbildung.
In den Gemeinschaften der SdJ, in den ihnen von früher her bekannten Formen von Feiern, suchten und fanden sie Halt und Bindung wieder und da wurde nur selten gefragt oder darüber nachgedacht, ob diese Formen mißbraucht und deshalb jetzt nicht mehr annehmbar waren.

Eine Ausnahme waren schon damals sicher jene, die in starkem Maße kirchlich-religiös geprägt waren. Ihnen bot der Schoß der Kirche, die alle Stürme überstanden hatte, Schutz und Halt und gab ihnen verlorene Bindungen wieder.

Doch genug der selbstkritischen Reflexionen.

Was bleibt, ist, daß bündische Formen, bleiben wir bei diesem Terminus, weil er in allen drei Traditionssträngen der SdJ gemeinsam ist, die junge Gemeinschaft bestimmten und für viele Jahre prägten.

Wenn wenige Jahre später in langen Beratungen und Gesprächen die Grundsätze entwickelt wurden, die die SdJ ganz bewußt als Erziehungsverband sahen, wenn Probleme der Altersgliederung im Verband diskutiert wurden, die dann ihren Niederschlag in den Grundheften fanden, dann wurde für all dies in dieser letzten Augustwoche des Jahre 1950 in Gaisthal der Grundstein gelegt.
Und auch die wohl zwei Jahre später sich entwickelnde DJO-Jungenschaft, in der das Bündische am stärksten ausgeprägt und die in besonderer Weise von Sudetendeutschen beeinflußt war, hängt wohl mit der von Gaisthal ausgehenden Entwicklung zusammen.

Was bleibt von all dem heute?

Ich kann in der heutigen Sudetendeutschen Jugend kaum oder nur ganz wenig von dieser bündischen Form erkennen.
Diese Feststellung muß nicht sofort als totale Kritik empfunden werden.
Der Hinweis, heute gäbe es andere Ausdrucksformen, trifft aber nur bedingt zu.
Es gibt nicht wenige bündische Gruppen von jungen Menschen und sie erzeugen durchaus eine gewisse Anziehungskraft für andere.
Betrachtet man das Erscheinungsbild der heutigen SdJ, dann gilt wohl die wertfreie Feststellung, daß sie sich andere Formen gesucht hat. Welche das sind und ob sie sie gefunden hat, muß sie selbst entscheiden, das steht dem Außenstehenden kaum zu. Bei allen neuen und andersartigen Formen der Selbstdarstellung, eines aber bleibt.
Hätte Gaisthal 1950 die im Werden begriffene Gemeinschaft junger Sudetendeutscher nicht zu fester bündischer Form geführt, hätte sie auf den eingangs geschilderten Niveau von Forchheim von 1949 verharrt, ganz sicher hätte es keinen Anlaß gegeben, im vergangenen Jahr 50 Jahre Sudetendeutsche Jugend zu begehen.
Insoweit ist Gaisthal 1950 bei allem was sich seitdem geändert hat von Bedeutung für die Sudetendeutsche Jugend heute.

Einem alten Jugendbewegten mag es vermessen erscheinen, aber ich wage den Vergleich trotzdem.
Für die Sudetendeutsche Jugend nach Krieg und Vertreibung ist Gaisthal 1950 von ähnlicher Bedeutung, wie es das Treffen der Freideutschen Jugend im Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner für die gesamtdeutsche Jugendbewegung war.

Gaisthal 1950 war aber nicht nur Suchen und Finden fester Gemeinschaftsformen.
Gaisthal 1950 war vor allem und ganz besonders auch politische Standortbestimmung, die im übrigen mit dem ersten hier behandelten Problemfeld eng zusammenhängt.

Würden diese von Krieg, Vertreibung und Heimatverlust in ihrer Lebensplanung so besonders Betroffenen vorrangig von emotionaler Sehnsucht nach der verlorenen Heimat und dem Streben nach deren Wiedergewinnung bestimmt sein, oder den Schwerpunkt ihrer Arbeit im Heute und Morgen sehen?

Würden die aus allen Bindungen Gerissenen ihre politische Orientierung in extremistischen Kreisen suchen oder sich in die noch junge deutsche Demokratie einfügen?

Würden sie, von denen viele ohne Beruf waren, dies trifft besonders für jene, die den Krieg noch als blutjunge Soldaten erlebt hatten, zu, in der Lagermentalität wie wir dies dann von den Palästinensern erfahren haben, verharren oder selbst nach Wegen suchen, um eine neue Existenz aufzubauen?

Antworten auf diese Fragen gaben die Diskussionen und Vorträge in Gaisthal.

Schon die Themen machen deutlich, daß für sentimentale Rückbetrachtung bei dieser Generation kein Raum war.
So sprach der ehemalige Präsident der Kreditanstalt der Deutschen in der Tschechoslowakei, Anton Kiesewetter, über das Genossenschaftswesen. Die Gründung von Personengemeinschaften auf Grundlage der Freiwilligkeit bis hin zu einer eigenen sudetendeutschen Geldanstalt, könne die materielle Not lindern.

Theodor Oberländer, wenige Zeit vorher zum Staatssekretär für Flüchtlingsfragen in der Bayerischen Staatsregierung berufen, problematisierte das Prinzip der Selbsthilfe.
In Berchtesgaden hatte die dortige SdJ in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt eine Erfassung lehrstellensuchender junger Menschen durchgeführt. Nun wurde mit Oberländer die Idee eines Jugendgemeinschaftsdienstes diskutiert, von dem Arbeiten, die im Gemeininteresse liegen, durchgeführt werden sollten.
Eine ähnliche Einrichtung gab es in den westlichen Besatzungzonen der alten Reichshauptstadt Berlin.

Bedeutungsvoll aus heutiger Sicht ist, daß die Bemühungen immer verbunden waren mit staatspolitischer Erziehung der in diesen Einrichtungen Arbeit findenden jungen Menschen.
Die Berliner Initiative übernahm das Haus am Wannsee, das später für wenige Jahre in die Trägerschaft des Sozialwerks überging.
Von Berchtesgaden aus entstand die Idee der Jugendausbildungsstätte Ingolstadt, ein Vorläufer des Heiligenhofes, nicht nur in der Person des Leiters. Ossi Böse leitete die Ausbildungsstätte Ingolstadt und übernahm zwei Jahre später als erster Leiter den Heiligenhof.
Der mit Oberländer diskutierte Gedanke der Selbsthilfe wurde ein Jahr später in Dinkelsbühl zur Philosophie eines dort zum ersten Mal zur Diskussion gestellten Sudetendeutschen Sozialwerks.

In der Aussprache mit Oberländer wurden auch und vor allem uns Jungen die Augen geöffnet für die Völker Ost- und Ost-/Mittel-Europas.
Zweifellos beeinflußt von der Propaganda der Nationalsozialisten gegenüber dem Osten, das galt vor allem für die Älteren, war das Schicksal der Vertreibung in keiner Weise geeignet, ein differenziertes Bild von den Völkern dieses Raums entstehen zu lassen. Für uns, die wir in die westlichen Besatzungszonen gekommen waren, verschwanden diese Völker hinter der Wand des Sowjetkommunismus und des kalten Krieges.
Oberländer versuchte diese Wand transparent zu machen, forderte uns auf, uns mit den Völkern zu befassen, die nach ihrer Befreiung unsere Partner sein würden. Deshalb sei die Auseinandersetzung, die wir zu führen hätten, in erster Linie eine ideologische - Freiheit - Diktatur, und nicht primär eine nationale um Grenzen und Territorien.
Natürlich, das soll nicht verschwiegen werden, war der Gedanke an eine mögliche Rückkehr in dieser Zeit, fünf Jahre nach Kriegsende, vorherrschend. Aber es war eben auch mehr, was diesen Kreis beschäftigte und dieses Mehr hob ihn über den Status eines Vertriebenenverbandes hinaus.
Wenn in dieser Diskussion über die Bedeutung der Familie nachgedacht wurde, dann auch im Zusammenhang mit der ideologischen Zusammensetzung. Familie als kleinste Zelle des Volkes gegen die Vermassung der Menschen, wie sie zum Programm des real existierenden Sozialismus gehörte.

Sehr grundsätzlich ist die Aussprache mit Lodgman von Auen, dem damaligen Sprecher der Landsmannschaft.
Lodgman informierte über das Abkommen mit dem tschechischen Armeegeneral Prchala, dem Vorsitzenden des tschechischen Föderativausschusses in London, das wenige Wochen vorher in Wiesbaden unterzeichnet worden war und das damals besonders in der amerikanischen Öffentlichkeit für Aufsehen sorgte.
Damit war deutlich, daß die sudetendeutsche Problematik, wenn überhaupt, nur gemeinsam mit den Tschechen einer Lösung zugeführt werden könne.

Die Botschaften der Sudetendeutschen Jugend an die tschechische Jugend von späteren Sudetendeutschen Tagen aus, und die darin formulierten Gedanken, haben hier ihren Ursprung.
Und schließlich, wen wundert es, daß 45 Jahre nach Gaisthal unter den Initiatoren und Erstunterzeichnern des Manifestes Versöhnung 95, dem ersten sudetendeutsch - tschechischen Dokument in diesem Jahrhundert, das die Zustimmung von mehr als 150 tschechischen und sudetendeutschen Persönlichkeiten aus allen politischen Lagern gefunden hatte, Teilnehmer des ersten Führerlehrgangs in Gaisthal waren.

Ein weiterer Themenbereich in der Diskussion mit Lodgman war das Verhältnis zum Staat.
Die Sudetendeutschen, die gegenüber den Deutschen im Reich den Staat unterbewertet, ja abgelehnt hatten, hätten nun die Aufgabe, ein natürliches Verhältnis zum Staat Bundesrepublik Deutschland zu finden. Das bedeutet die Absage an jeden Extremismus und die Entscheidung für die Demokratie der jungen Bundesrepublik.
Diesen, als den eigenen Staat, galt es anzunehmen.
Bei den politischen Kräften dieser Bundesrepublik Verbündete zu finden, setzte voraus, sich selbst für diesen Staat zu engagieren.
Die klare Distanzierung der Sudetendeutschen Jugend einige Jahre später von Versuchen der Schillerjugend oder dem Bund heimattreuer Jugend nationalistisches Gedankengut in die SdJ zu tragen und die entschiedene Ablehnung war deshalb nie nur taktische Maßnahme im Hinblick auf die Mitgliedschaft im Jugendring, sondern wurzelte in der uneingeschränkten demokratischen Gesinnung dieser Gemeinschaft, deren Grundlage eben auch auf Gaisthal zurückgeht.
Daß dieselbe Führerschaft in Gaisthal zur gleichen Zeit darüber diskutierte im Winterhalbjahr 50/51, das Werk E. G. Kolbenheyers in den Mittelpunkt der Gruppenarbeit zu stellen, widerspricht aus damaliger Sicht der demokratischen Orientierung keinesfalls und ist nur von heute aus gesehen, eine der Absonderlichkeit, oder besser, ein nur aus der Zeit verständlicher bzw. erklärbarer Vorgang.

Dies alles zeigt, daß die Führer der SdJ von damals gewillt waren, einen Jugendverband aufzubauen, der in seiner Zielsetzung und in seinen Werken über den Vertriebenenbereich weit hinaus wies.

Die Sudetendeutsche Jugend wollte ein Erziehungsverband sein.
Diese Absicht war wohl die deutlichste Anknüpfung an die Turnerjugend in der ersten Republik.
Erziehungsverband, das bedeutete nicht pädagogische Provinz in einer sonst rauhen Umwelt zu sein, vielmehr forderte der Verband von seinen Mitgliedern das aktive Eintreten für das demokratische Gemeinwesen.
Es ist wohl deshalb nicht von ungefähr, daß der aus der Sudetendeutschen Jugend hervorgegangene Arbeitskreis Sudetendeutscher Studenten, eine der ersten studentischen Organisationen war, die für die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht eintrat, und das zu einer Zeit, als das pazifistische ohne mich gerade bei Studenten besonders stark vertreten war.

Bei allem Engagement für die Demokratie ist aber auch kritisch anzumerken, daß nur wenige dieser Führergeneration der Sudetendeutschen Jugend, und dies auch erst viele Jahre später, sich für eine aktive Mitarbeit in einer politischen Partei entschließen konnten.
Die Ursache hierfür ist wohl in dem Anspruch zu sehen, daß die Sudetendeutsche Jugend, wie die Landsmannschaft, die gesamte Volksgruppe über alle Parteien und Schichtungen hinweg vertreten wollte.
Gleichwohl macht dies aber auch deutlich, daß die Verantwortlichen der damaligen SdJ die Bedeutung des Artikels 21 des Grundgesetzes -- und damit die Bedeutung der politischen Parteien -- nicht erkannten.
Dies war ein Fehler, weil er die Mitwirkungsmöglichkeit und damit die Einflußnahme auf politische Entscheidungen einschränkte.

50 Jahre Gaisthal -- was bedeutet es, was hat es uns heute noch zu sagen?

Ich meine einiges.

Im Eigentlichen liegt der bleibende Wert dieses Ereignisses darin, daß sich dort eine Gemeinschaft von Menschen bildete, die auf andere ausstrahlte und dadurch zum Kristallisationspunkt für einen bis in die sechziger Jahre auch mitgliedermäßig starken und beachtlichen Jugendverband wurde.
In Gaisthal wurden freundschaftlich / kameradschaftliche Beziehungen geschaffen, die z. T. bis heute halten. Von den, wie man heute sagen würde Gaisthal - Seilschaften gingen Impulse aus, die in der Arbeit der Volksgruppe heute noch nachwirken, z.B. Sudetendeutsches Sozial- und Bildungswerk mit Heiligenhof und Burg Hohenberg, Gestaltungsmerkmale der Sudetendeutschen Tage und vieles andere mehr.

Wenn heute über dem Gaisthal-Lager neben der sudetendeutschen Fahne auch die tschechische Fahne weht, weil junge Tschechen an diesem Lager teilnehmen, dann ist dies kein Traditionsbruch mit Gaisthal 1950, sondern das konsequente Umsetzen in die Tat, was damals mit Oberländer diskutiert wurde.
So könnten noch viele Einzelheiten Erwähnung finden, die für den sudetendeutschen Alltag inzwischen selbstverständlich sind, die aber auf die Gespräche vor 50 Jahren zurückgehen bzw. auf Initiativen von Menschen, die damals von diesem Lager geprägt wurden.

Ich schließe dennoch mit einer kritischen Anmerkung.

Die Initiative zu 50 Jahre Gaisthal ging im Gegensatz zu einem ähnlichen Treffen vor 20 Jahren nicht von den Ur-Gaisthalern aus, sondern von Angehörigen späterer Lagergenerationen.
Das ist erfreulich, zeigt es doch, daß auch diese von dem Mythos Gaisthal erfaßt wurden.
Notwendig erscheint mir aber, daß alle, denen Gaisthal etwas bedeutet, anders und intensiver als bisher im Gespräch verbunden bleiben. Damit meine ich nicht die Verbindung, die die organisations- oder tagespolitischen Debatten ohnehin aufzwingt.

Vielmehr denke ich an den Gedankenaustausch über grundsätzliche Probleme, z.B.

Diese und andere Fragen sind heute von gleich entscheidender Bedeutung, wie es die Probleme waren, die 1950 diskutiert wurden.
Zu den Antworten kann der heute 75-Jährige, der 1950 das Lager leitete, ebenso beitragen, wie einer, der für das Lager jetzt Verantwortung trägt. Das Gespräch zwischen den Generationen könnte vielleicht viel schneller zu Antworten führen, als dies sich mancher vorstellt.
Die Initiative hierzu kann nur und muß sogar von den Jüngeren ausgehen.
Vielleicht wird mit dem Treffen Gaisthal ein Anfang gemacht. Wenn dies gelingt, dann hat dieses Treffen eine zusätzliche Berechtigung erfahren.
Dem, was wir die sudetendeutsche Frage in der Zukunft nennen, würde es zweifellos nutzen.



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